Analyse zum Strassburger Klima-UrteilDeutschland, ein Vorbild für die Schweiz?
Die deutsche Regierung hat nach einem Urteil des Verfassungsgerichts 2021 ihre Klimaziele innert Wochen verschärft. Es gibt aber grosse Unterschiede zur Schweiz.
Diese Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg den Klimaschutz erstmals als Menschenrecht eingestuft. Auf Klage von Seniorinnen rügte er die Schweiz dafür, dass sie zu wenig tue, um dieses Recht zu schützen.
2021 hatte das deutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe ein Urteil gefällt, das Klimaschützerinnen und Klimaschützer in der ganzen Welt ebenfalls als «historisch» bezeichneten. Das Gericht stellte fest, dass die deutsche Klimapolitik die Freiheitsrechte junger Menschen und künftiger Generationen verletze, wenn sie die Zumutungen, die der Schutz des Klimas mit sich bringe, zu weit in die Zukunft verschiebe.
Die Reaktionen auf die beiden Urteile fielen in den betroffenen Ländern denkbar unterschiedlich aus. In der Schweiz jubelten einzig Linke und Grüne, die anderen Parteien und die meisten Medien kritisierten die Mahnung «fremder Richter» wahlweise als kontraproduktiv oder inakzeptabel.
Die deutsche Regierung hingegen machte sich gleich an die Arbeit: Innert weniger Wochen verschärfte die Koalition der Christdemokratin Angela Merkel Gesetze und Ziele und ging dabei sogar deutlich über das hinaus, was Karlsruhe angemahnt hatte: Bis 2030 sollten die CO₂-Emissionen nun um 65 statt um 55 Prozent verringert werden (in der Schweiz liegt das Ziel bei 50 Prozent), der Termin für Klimaneutralität wurde von 2050 auf 2045 vorgezogen.
Klimaschutzverbände klagen längst weiter
Trotz dieses Erfolgs fällt aus Sicht deutscher Klimaschutzverbände die Bilanz drei Jahre danach zwiespältig aus: Die Politik habe zwar höhere Ziele gesteckt, monieren sie, die Massnahmen zu deren Erreichung blieben aber weit hinter den Ambitionen zurück, vor allem in den Bereichen Verkehr, Heizen und Landwirtschaft.
In der Zwischenzeit hat sich das politische Klima in Deutschland zudem drastisch verändert: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine stehen die Sicherheit der Energieversorgung und die Preise für Strom, Benzin oder Gas im Vordergrund, die Ökobilanz ist vergleichsweise nebensächlich geworden. Als die Grünen zuletzt versuchten, Hausbesitzer zum schnelleren Austausch fossiler Heizungen zu zwingen, löste dies fast einen Aufstand gegen die neue Regierung auf.
Um der Politik wieder Beine zu machen, gehen Klimaschutzverbände nun immer häufiger vor Gericht. In Karlsruhe sind sie zuletzt aber mehrmals gescheitert, etwa als sie ein Tempolimit auf Autobahnen forderten. Auch gegen die Umsetzung des Urteils von 2021 klagen sie, diese Beschwerde liegt nun ebenfalls in Strassburg.
Am Ende entscheidet in der Schweiz das Volk
Die europäische wie die deutsche Justiz überlassen es bisher aber weitgehend der nationalen Politik, mit welchen konkreten Massnahmen diese ihre Klimaziele erreicht. Sie sind sich der Gewaltenteilung also durchaus bewusst.
Da sich die Schweizer Politik in einem ganz anderen System abspielt als die deutsche, wird auch die Reaktion auf das Urteil von Strassburg ganz anders ausfallen. Anders als eine deutsche Regierung kann der Bundesrat die Klimaziele nicht selbst bestimmen – weder bildet er eine richtige Koalition, noch hat er im Parlament eine eigene Mehrheit. Und am Ende entscheidet in der Regel sowieso das Volk. Die Mahnungen von Gerichten, schon gar von ausländischen, stehen in dieser Ordnung sehr weit hinten.
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