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Kinderbetreuung auf dem Land
Eine SVP-Frau bringt die Kita ins konservative Muotatal

Portrait von Nathalie Zwyssig am Rande von Muotathal. 18.10.23

Wie die Kita aufs Land kommt

Im Kanton Schwyz muss 2024 jede Gemeinde eine Kita haben. Auch in Muotathal. Eine SVP-Politikerin muss diese nun aus dem Boden stampfen. Auch in anderen Regionen erwartet die Bevölkerung von ihrer Gemeinde Kita-Plätze. Zum Beispiel die Roche- und Novartis-Manager in Baselland.
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Es ist verbrieft. Muotathal, eine hinter Bergen versteckte Schwyzer Gemeinde, bekommt eine Kita. Die erste im Dorf. Die Nachricht ging durchs Tal, Reaktionen folgten, natürlich. Am Apéro nach der Gemeindeversammlung hörte man: «Braucht es das bei uns?»

Bei uns. Hinten im Tal. Dort, wo die Felswände den Menschen immer näher kommen. «Dort, wo die Männer Bärte im Gesicht tragen und Stumpen rauchen, ja, genau», sagt Nathalie Zwyssig und lacht. Die SVP-Gemeinderätin hat die Kita geplant. Und sie kennt die Klischees gegenüber den Muotathalerinnen und Muotathalern. «Ja, ja, die bringen wir nicht so schnell weg. Doch wir verändern uns. Ja, auch wir.»

«Es ist Zeit»

Zwyssig ist eine sympathische 53-jährige Frau, aufgewachsen im Dorf. Sie präsidiert den Theaterverein, sie war Präsidentin des Turnvereins,  sass im Vorstand des Kirchenchors und ist Mitglied beim Frauen- und Mütterverein. Sie weiss, wie die Leute im Tal denken.

Natürlich habe es nach der Gemeindeversammlung Menschen gegeben, die die Sinnfrage gestellt hätten, doch genauso viele sagten: «Es ist Zeit.» Muotathal brauche eine Kita.

Drohnenaufnahm von Muotathal. 18.10.23

Wie die Kita aufs Land kommt

Im Kanton Schwyz muss 2024 jede Gemeinde eine Kita haben. Auch in Muotathal. Eine SVP-Politikerin muss diese nun aus dem Boden stampfen. Auch in anderen Regionen erwartet die Bevölkerung von ihrer Gemeinde Kita-Plätze. Zum Beispiel die Roche- und Novartis-Manager in Baselland.

Am 1. Januar 2024 hätte es so weit sein sollen. Nun hat man den Start auf Anfang Schuljahr geschoben. Dann tritt ein neues Schwyzer Gesetz in Kraft. Jede Gemeinde muss ab dann eine Kita betreiben – oder dafür sorgen, dass ihre Menschen Zugang zu einer haben.

Der konservative Kanton Schwyz übernimmt damit eine schweizweite Vorreiterrolle bei der Vereinbarkeit. Der Grund, weshalb der Kantonsrat das Gesetz angenommen hat, war aber ein anderer: Man will wegen der OECD-Steuerreform weiter attraktiv bleiben für Firmen und ihre Mitarbeitenden.

Das Interesse ist da

In Muotathal war man vorbereitet, das Thema beschäftigt Nathalie Zwyssig seit Jahren. Der Gemeinderat hat eine Arbeitsgruppe gebildet und im Frühling eine Umfrage gemacht. Der Rücklauf bei den Eltern sei mit 60 Prozent sehr gut gewesen. Die Zahl der Interessierten ebenfalls, Eltern von 35 Kindern können sich vorstellen, die Kita zu nutzen. Das ist viel für Muotathal mit seinen 3500 Einwohnerinnen und Einwohnern. Und eine gute Grundlage, um loszulegen.

Zwyssig arbeitete mit der Arbeitsgruppe einen Vorschlag samt Businessplan aus und brachte ihn in den Gemeinderat, damit ihn dieser absegnet. Dessen Zusammensetzung: sieben Männer, zwei Frauen. «Kommt das durch?», fragte sie sich.

Wenn es einen Engpass gab, schaute die Grossmutter. Eine Kita, warum auch? 

In der Gemeinde Blauen BL ist man etwas weiter. Hier steht die Kita bereits. Trotzdem blickt man mit Sorgen auf die nächste Gemeindeversammlung: das Budget.

Blauen ist ein schöner Fleck Erde im Laufental, hoch oben auf einem Hügel liegt das Dorf, 700 Menschen wohnen hier. Dort führt Oriana Núñez seit sechs Jahren die Kindertagesstätte. Zu Beginn wurde sie von einem Unternehmen geführt, 2019 übernahm die Gemeinde. Der Grund: Die Kita ist defizitär.

«Der Anfang war hart», sagt Núñez. Sie startete mit zwei Kindern. Dann kamen vier. Anfangs hatte die Kita an drei Tagen offen, Montag bis Mittwoch. Seit einem Monat kommen die Kinder an allen fünf Tagen. «Die Mundpropaganda ist das Schwierigste», sagt sie. Sie hat Flyer verteilt. Leute auf der Strasse angesprochen.

Blauen ist ländlich geprägt – gar nicht mal so unähnlich wie Muotathal. Es gibt viele Bauernhöfe und darum auch viele Generationenhäuser. Wenn es einen Engpass gab, schaute die Grossmutter. Eine Kita, warum auch? 

Etwas gegen die Abwanderung

Gleichzeitig kämpfte das Dorf in den 2000er-Jahren gegen die Abwanderung. Blauen wollte etwas dagegen tun. Im Dorfzentrum entstand das «Blauehuus», darin ein Dorfladen und eben auch eine Kita. Das Ziel: Blauen für Familien attraktiv machen. 

«Heute gehen 30 Kinder in die Kita», sagt Núñez. Manche kommen tageweise, andere aber auch nur stundenweise. Darum steht im Jahresbudget beim Posten Kita ein Minus. Das löst nicht nur bei Núñez Sorgen aus. Auch der zuständige Gemeinderat Florian Meury blickt mit Besorgnis auf die Budgetabstimmung an der Gemeindeversammlung Ende Jahr. Darum sprechen Núñez und Meury regelmässig die Eltern an: Auch sie sollen die Gemeindeversammlung besuchen und dort ein gutes Wort für die Kita einlegen.

Das Blaue Huus in Blauen: Links der Dorfladen, rechts die Kindertagesstätte.

In Muotathal steht das Budget, es muss aber von der Gemeindeversammlung genehmigt werden. Die Kita wird durch eine spezialisierte Stiftung aus dem nahen Ibach geführt. Die Gemeinde profitiert von einer Anschubfinanzierung des Bundes, zugleich stellt sie der Kita für sechs Jahre eine Defizitgarantie aus. Budgetiert ist ein jährliches Defizit von wenigen Tausend Franken. Wären es mehr als 25’000 Franken, müsste es vor das Volk. «Wir denken, das schaffen wir», sagt Nathalie Zwyssig. 

Zwyssig selber ist in einem Generationenhaus aufgewachsen. Ihre Mutter hat ihre Kinder betreut, als sie arbeiten ging. Sie ist gelernte Pharmaassistentin und arbeitet heute zu 50 Prozent. «Nicht jede Familie hat das Glück wie ich, dass die Grossmutter im selben Haus wohnt.»

«Heute bin ich völlig überzeugt, dass Muotathal eine Kita braucht.»

Maria Christen-Föhn, SVP

Sie brachte die Kita in den männerdominierten Gemeinderat und war selbst ein bisschen überrascht, wie problemlos das ging. «Ich hatte gute Argumente, die Finanzierung war geklärt.»

Hilfe bekam sie von der zweiten Frau im Gemeinderat: Gemeindepräsidentin Maria Christen-Föhn, ebenfalls SVP. Die 58-Jährige hat vor zehn Jahren noch anders über das Thema gedacht, wie sie sagt. «Heute bin ich aber völlig überzeugt, dass Muotathal eine Kita braucht.»

Portrait von Nathalie Zwyssig (links)und Maria Christen am Rande von Muotathal. 18.10.23

Wie die Kita aufs Land kommt

Im Kanton Schwyz muss 2024 jede Gemeinde eine Kita haben. Auch in Muotathal. Eine SVP-Politikerin muss diese nun aus dem Boden stampfen. Auch in anderen Regionen erwartet die Bevölkerung von ihrer Gemeinde Kita-Plätze. Zum Beispiel die Roche- und Novartis-Manager in Baselland.

Christen-Föhn verfolgt ein ähnliches Ziel wie die Kollegen in Baselland vor zehn Jahren. Sie will das Dorf zukunftstauglich machen. Die Gemeinde baute Spielplätze und eine Pumptrack-Bahn für velobegeisterte Kinder, sie liess einen Parkplatz aufhübschen. «Wir wollen, dass junge Familie wieder ins Tal zurückkehren», sagt die Gemeindepräsidentin. Und dafür brauche es auch eine Kita. 900 der 3500 Einwohnerinnen und Einwohner pendeln zur Arbeit. «Diejenigen, die kein Grosi zum Hüten haben, geben ihre Kinder vorne im Talkessel ab.» Sie meint in Schwyz oder Brunnen, den grossen Orten im Kanton.

Eine Kita sei zudem auch notwendig geworden, weil sich in vielen Familien die Lebensumstände geändert hätten. «Heute wollen Frauen arbeiten. Und manche müssen auch. Weil das Geld nicht mehr reicht», sagt Christen. Die Strompreise sind gestiegen, die Krankenkassenprämien ebenfalls. Das spürt man in Muotathal. «Hier gibt es vor allem einfache Arbeiter. 100’000 Franken verdient hier kaum einer», sagt sie.

Erfolgsfaktoren: Vertrauen und Geld

Das Geld ist auch in Blauen BL immer wieder ein Thema. Wenn Oriana Núñez über die Erfolgsfaktoren einer Kita spricht, dann geht es einerseits um das Vertrauen. Andererseits um das Geld. Ein Tag Betreuung kostet rund 100 Franken. Ihr Vorgesetzter Florian Meury sagt, dass man viele Absagen erhalte, weil die Kita zu teuer sei.

Seit drei Jahren kümmert sich Meury als Gemeinderat um die Kita. Damals machte die Einrichtung 5000 Franken Umsatz im Monat, heute sind es 18’000. «Die Kita ist eine Erfolgsgeschichte, auf die auch der gesamte Gemeinderat stolz ist. Doch sie hat noch immer einige Kritiker im Dorf», sagt er.

Gemeinderat Meury kennt sie. Er ist in Blauen aufgewachsen. Wenn sie ihn fragen, weshalb es diese teure Kita brauche, erzählt er darum häufig seine eigene Geschichte. Die Eltern führten in Blauen die Dorfbeiz, er war als Kind viel bei den Grosseltern. Heute ist Meury selbst Vater, weil seine Eltern aber noch nicht pensioniert seien, falle diese Art von Betreuung weg. Er erwähnt zudem, dass eine solche Betreuung auch der Gemeinde in Form von Steuereinnahmen zugutekomme, wenn zwei Elternteile arbeiteten statt nur einer. Zudem könne eine dorfeigene Kita die Gemeinde Blauen für Neuzuzüger attraktiv machen.

«Jede Familie ist ein Erfolgserlebnis»

Als kürzlich eine Familie ins Dorf zog und andeutete, dass sie in der Kita mit ihren beiden Kindern auf den bislang geschlossenen Freitag angewiesen seien, war das für Meury ein Zeichen. Nun hat die Kita die volle Woche offen. «Jede Familie ist für uns ein Erfolgserlebnis.»

In Muotathal hat man den ersten Personalentscheid bereits getroffen. «Die Kita-Leiterin kommt aus dem Tal. Sie kennt man», sagt Gemeinderätin Zwyssig.  «Das hilft sicher für die Akzeptanz», sagt Gemeindepräsidentin Christen.

Die beiden sind mit einem Kia (kein Klischee-Subaru) zur Kirche gefahren, sie liegt etwas erhöht über dem Dorf und bietet einen Blick auf das Tal. Es ist Nachmittag, zwei junge Mütter mit ihren Kinderwagen kreuzen die beiden Gemeindepolitikerinnen. 

Werden sie die Kita nutzen? Die beiden Frauen schütteln den Kopf. Man mache das traditionell: selbst und mit den Grosis. Gemeindepräsidentin Christen und ihre Kollegin Zwyssig schmunzeln. Soll es geben.