Kims HexenapothekeWir sind 154 000
Ab und an schmückt sich die Schweiz gern mit Menschen wie Nemo und mir. Dabei haben wir, streng genommen, bis heute keinen Schweizer Pass.
Darling Nemo
Cute nonbinäre Menschen in der Schweiz
Liebe Menschen mit Schweizer Pässen
Ich habe mich so gefreut, als du, Nemo, den ESC gewonnen hast. Ich gratuliere dir sehr herzlich zum Sieg und zum grossartigen, genre- und gendersprengenden Lied!
In den Tagen nach deinem Gewinn wurde mir allerdings schlecht ob all dem Onlinehass. Natürlich war es eine kleinere Nummer, als ich vor zweieinhalb Jahren mit meiner Arbeit bekannt wurde, aber es sind dieselben Mechanismen. Ein Körper, der die bestehende Ordnung wanken macht, betritt die breite öffentliche Sphäre. Entweder zeigen sich die Menschen euphorisch, betonen, wie toll sie das finden, und zentrieren wieder sich und ihre Offenheit damit. Oder der Körper wird mit so viel Hass und Scham beworfen, dass es nicht spurlos an diesem vorübergehen kann. Es wird zu wenig über unsere eigentliche, künstlerische Arbeit gesprochen.
Kürzlich war ich mit unserem Theaterstück «Blutstück» am grössten europäischen Theaterfestival und wurde sowohl vom Intendanten als auch vom Chefdramaturgen misgendert. Es geschieht andauernd, dass Institutionen, kulturelle Anlässe und Männer sich mit mir, meiner Arbeit, Diversität und Progressivität auf die Fahne schreiben – und mich dann durchweg misgendern. Es provoziert mich, dass geschrieben wird, «Schweiz gewinnt ESC». Denn streng genommen haben weder du, Nemo, noch ich, noch all ihr nonbinären Menschen in der Schweiz, derer es zwischen 103 000 bis 154 000 gibt, einen Schweizer Pass. Ich erachte mich als staatenlos, solange die Schweiz keinen dritten Geschlechtseintrag hat. Ich lebe seit meiner Geburt hier, aber dieses Land bietet mir keine Möglichkeit, meine «Identität» so auszuweisen, wie ich bin. Ich komme nicht vor in diesem Land.
Wir bleiben Schmuck für sie
Und deshalb provoziert es mich so, dass sich diese Nation mit uns schmückt. Denn wir bleiben Schmuck für sie. Die Reflexionsarbeit wird nicht gemacht. Die Arbeit, sich zu fragen: Was erlaubt es mir, durch die Welt zu gehen und mich nie mit meinem Geschlecht auseinanderzusetzen? Wie sind ich und die Welt eingerichtet, dass Gender nur ein Thema für «gender gaga Menschen» ist?
Es geht nicht darum, keine Fehler zu machen. Lasst uns eine Fehlerkultur leben, die es uns erlaubt zu scheitern, wenn wir uns danach liebevoll entschuldigen können und es als Anlass nehmen, weiter zu reflektieren. Es geht nicht darum, dass «woke» Menschen ein moralisch überlegenes Regelwerk vorlegen. Es geht darum, dass in unserer Gesellschaft sehr viel Menschen aufgrund ihrer Identität und ihres Erscheinens sehr viel Gewalt erfahren. Und andere nicht. Dass diese Gewalt strukturell ist, zutiefst verankert in unseren Schulen, in unseren Vereinen, in unseren Filmen und Büchern und Liedern und Stücken, in unserem Staat, in unserer Sprache, in unserer Architektur, in unserem öffentlichen Raum.
Arbeit an gewaltvollen Sprechgewohnheiten
Ich für meinen Teil schreibe keine «korrekte» Sprache vor. Ich sage einfach: Hey, wenn du mir «er» sagst, tut mir das weh. Wie wenn ich in einen Sarg gepresst werde, der zu klein ist. Das einzelne «er» ist nicht dermassen schlimm, aber es passiert halt ständig, ich werde ständig in einen zu kleinen Sarg gepresst. Ich fände es schön, wenn du mir «they/them» sagst. Ich fände es schön, wenn du an deiner gewaltvollen Sprechgewohnheit arbeiten magst. Ich fände es voll schön, wenn du dich fragen magst, warum du dich noch nie fragen musstest, wie du mir sagen kannst, ohne mir Gewalt anzutun. Ich zwinge dich nicht dazu. Ich sage dir nicht, dass du ein schlechter Mensch bist, weil du das noch nicht getan hast. Aber ich sage dir, dass du privilegiert bist, dass Privilegien mit Macht kommen, und mit Verantwortung. Und ich lade dich also ein, die Verantwortung, die du in meinen Augen hast, wahrzunehmen.
Liebe*r Nemo, liebe nonbinäre Menschen. Wir sind nicht die Einzigen, die in diesem Land leben, aber keinen passenden Pass haben. Wir gehören zu den vielen, die hier sind und aufgrund unserer Identität keinen Identitätsausweis haben, der uns dieselben Rechte wie Herrn und Frau Schweizer gibt. Die Rechten brauchen uns, um ihre Identität als unser Gegenteil zu konstruieren. Sie müssen uns ausschaffen und abschaffen, mit Gewalt aus ihrer Reinheit von Geschlecht, Race und Gesundheit halten. Das ist sehr anstrengend für uns. Ich fühle mich oft unsicher und unerwünscht im öffentlichen Raum. Was ich dann mache: Ich nehme mir diesen Raum tanzend.
Deshalb lade ich alle ein, die keinen passenden Pass haben, und jene, die sich mit uns solidarisieren: Treffen wir uns am 14. Juni, am Tag des feministischen Streiks, um 11 Uhr vor dem Zürcher Rathaus. Bringt eure Kopfhörer und schönsten Outfits. Lasst uns für eine Stunde einen Dance Walk machen, um zu zeigen: Wir sind hier, wir sind queer, und wir nehmen niemandem Platz weg. Wir bedrohen die gewaltvolle Ordnung, keine Menschen. Auch wenn wir keinen Pass haben, wir haben Spass. We exist.
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