Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Krise in der Ukraine
Kiew erwartet den Angriff nicht in den nächsten 20 Tagen

Vorbereitung auf den Ernstfall: Freiwillige Ukrainerinnen und Ukrainer erhalten in der Nähe von Kiew militärisches Training. 
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Josep Borrell schien ein Ziel zu haben: Vor der Sitzung der Aussenminister der EU-Staaten in Brüssel wollte der für flapsige Bemerkungen bekannte EU-Aussenbeauftragte alles vermeiden, was Zweifel an der Geschlossenheit des Westens im Umgang mit Russland wecken könnte. «Perfekt» sei die Koordination mit den USA, fand Borrell, was die Videoschaltkonferenz mit Aussenminister Antony Blinken am Montagnachmittag belegen sollte. Blinken wolle über sein Treffen mit dem Russen Sergei Lawrow am Freitag in Genf berichten.

Als «beispiellos» bezeichnete der Spanier gar die Einigkeit unter den 27 Mitgliedsstaaten. Alle lehnten Russlands «veraltetes» Konzept der Einflusssphären in Europa ab und bekräftigten, dass die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt werden müssten.

Die Zweifel an der Geschlossenheit des Westens liegen nicht nur an unbedachten Äusserungen von Biden und Macron.

Dass zuletzt Zweifel an der Geschlossenheit des Westens aufgekommen sind, liegt nicht nur an unbedachten Äusserungen der Präsidenten Joe Biden und Emmanuel Macron, sondern eben auch an dem Verfahren, das die EU wählt. Sie ist wirtschaftlich viel enger mit Russland verflochten, als die USA es sind, sodass Sanktionen gegen Moskau EU-Mitglieder stärker treffen würden.

In Brüssel will man verhindern, dass Dokumente mit Listen für Strafmassnahmen sowie mögliche Schwellen bekannt werden – und deshalb arbeiten an diesem Paket nur wenige Beamte in der EU-Kommission, die mit den Hauptstädten kommunizieren. Das ist der Grund, wieso die Aussenminister keine konkreten Beschlüsse fassen. Borrell sagte nur, dass der Prozess begonnen habe: «Seien Sie sicher, dass das Paket fertig ist, wenn es gebraucht wird.»

Koordination des Westens nicht perfekt

Borrell warnte aber auch davor, die Lage zu «dramatisieren» – ein weniger verhüllter Hinweis darauf, dass der höchste EU-Aussenpolitiker vom Vorstoss der USA, Familienangehörige des Botschaftspersonals in der Ukraine abzuziehen, nicht gerade begeistert ist. Und die Koordination des Westens doch nicht ganz so perfekt ist.

Will die Lage nicht «dramatisieren»: Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell beim Treffen der EU-Aussenminister in Brüssel am Montag.

Das Aussenministerium in Washington hatte den Schritt überraschend in der Nacht auf Montag bekannt gegeben. Auch einige Diplomaten, deren Anwesenheit im Land nicht unbedingt nötig sei, sollten abgezogen werden. Vor Reisen in die Ukraine wurde ausdrücklich gewarnt, verbunden mit dem Hinweis, dass die USA im Fall einer russischen Invasion nicht in der Lage seien, Staatsangehörige ausser Landes zu schaffen. Auch die US-Botschaft im benachbarten Weissrussland warnte Amerikaner vor dem russischen Truppenaufmarsch und riet zum Verlassen des Landes.

US-Botschaft in Kiew eine der grössten in Europa

Die amerikanische Botschaft in Kiew ist mit 900 Mitarbeitern eine der grössten in Europa. Offenbar gab es schon länger Überlegungen, angesichts der Bedrohungslage zumindest die Zahl der Familienangehörigen von US-Mitarbeitern zu reduzieren. Im US-Aussenministerium dürften die Bilder von der panischen Evakuierungsaktion in Kabul im vergangenen Sommer noch in frischer Erinnerung sein, als die Amerikaner vom raschen Vorrücken der Taliban auf die afghanische Hauptstadt völlig überrumpelt wurden.

Borrell betonte, dass er von Antony Blinken Aufklärung über die Hintergründe der US-Entscheidung erwarte. Die Europäer hatten zunächst offenbar keine Pläne, nicht unmittelbar benötigtes Botschaftspersonal und dessen Angehörige aus der Ukraine abzuziehen. Für Österreichs Aussenminister Alexander Schallenberg sind gerade in der aktuellen angespannten Lage die «Augen und Ohren» von Diplomaten besonders wichtig.

Auch Deutschland holt Angehörige zurück

Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock machte allerdings klar, dass die «Sicherheit von Mitarbeitenden oberste Priorität» habe und die Lage ständig analysiert werde. Eine Ausreise von Botschaftspersonal könne auch zu einer Verunsicherung der Lage und zu Instabilität in der Ukraine führen, sagte Baerbock, die Moskau erneut zum Dialog und zur Deeskalation aufrief.

So ganz sicher war sich die deutsche Regierung ihrer Sache aber wohl nicht. Am Montagmittag jedenfalls wurde auch den Familienangehörigen deutscher Botschaftsmitarbeiter eine freiwillige Ausreise aus der Ukraine angeboten.

«Wir halten einen solchen Schritt der amerikanischen Seite für verfrüht und für einen Ausdruck übertriebener Vorsicht.»

Oleh Nikolenko, Sprecher des ukrainischen Aussenministeriums

Die offizielle Reaktion der Ukraine auf den amerikanischen Schritt fiel knapp aus. Präsident Wolodimir Selenski selbst verlor bei einem Termin zu Ehren der ukrainischen Auslandsspionage kein Wort zur Evakuierungsaufforderung. Auch Regierungschef und Aussenminister schwiegen. Lediglich Aussenministeriumssprecher Oleh Nikolenko erklärte: «Wir halten einen solchen Schritt der amerikanischen Seite für verfrüht und für einen Ausdruck übertriebener Vorsicht.»

Der ukrainische Diplomat betonte zudem, dass die Abreise von US-Diplomaten für diese nicht verpflichtend sei. Die Nachricht der BBC, dass auch Grossbritannien mittlerweile damit begonnen habe, einen Teil des Botschaftspersonals abzuziehen, blieb in Kiew zunächst unkommentiert.

«Eine gross angelegte militärische Operation kann zumindest in den nächsten zwei oder drei Wochen nicht stattfinden.»

Autoren einer Studie des Kiewer Zentrums für Verteidigungsstrategien

Das Zentrum für Verteidigungsstrategien in der ukrainischen Hauptstadt veröffentlichte am Montag in der «Ukrajinska Prawda» ein den Autoren zufolge mit ausländischen Militärangehörigen und Diplomaten abgestimmtes Szenario zur Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs: «Eine gross angelegte militärische Operation kann zumindest in den nächsten zwei oder drei Wochen nicht stattfinden», so das Fazit der Autoren. Sie zählen sogar 127’000 russische Soldaten entlang der Grenze zur Ukraine, auf der Krim und in der Ostukraine. Aber auch die seien noch «nicht genug für eine vollwertige Offensive».

Ausserdem fehle es weiterhin an Schlüsselindikatoren wie etwa der Schaffung strategischer Reserven. Zudem gebe es zurzeit zwar Feldspitäler, aber «keine Belege für die Bereitschaft medizinischer Einrichtungen, um an einer möglichen Operation der russischen Streitkräfte teilzunehmen».

Den befragten Experten zufolge «fehlen alle kritischen Indikatoren und Aufklärungserkenntnisse, die die Vollendung von Vorbereitungen der russischen Armee für eine grosse offensive strategische Operation charakterisieren», so die Studie.

Für wahrscheinlich halten die Autoren dagegen Cyberattacken und die damit verbundene Ausschaltung kritischer Infrastruktur in der Ukraine. Auch Terroranschläge oder die Sperrung der Meerenge von Kertsch für ukrainische Schiffe seien nicht auszuschliessen. Ausserdem halten die Autoren des Kiewer Zentrums «eine grosse bewaffnete Eskalation in der Ostukraine mit der offiziellen Entsendung der russischen Streitkräfte in das besetzte Territorium für sehr realistisch».

Mit «besetztem Territorium» sind die selbst ernannten «Volksrepubliken» in Donezk und Luhansk gemeint, in denen zwar von Russland gestützte Rebellentruppen stehen, aber noch keine regulären Einheiten der russischen Armee. Das wäre in der Tat ein neuer Eskalationsschritt.

An der Grenze zum «besetzten Territorium»: Ein ukrainischer Soldat in einem Unterstand nahe der Front zu den von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine.