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Interview mit Bildungsforscher
Herr Professor, wann werden Sie durch KI ersetzt? «Ich rette mich vorher in die Pensionierung»

Stefan Wolter, Leiter der Forschungsstelle für Bildungsoekonomie, Universität Bern, am 20. Februar 2025. Foto von Nicole Philipp.
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Bei den vielen Jobs von Stefan Wolter kann man schnell mal den Überblick verlieren. Seit 25 Jahren ist er Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, daneben Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern und Vertreter der Schweiz in den Bildungsgremien der OECD. Er ist der oberste Verantwortliche für die nationale Berichterstattung über Fragen, was sich in unseren Schulen tut.

Jetzt wollte er wissen, wie viele 8- bis 18-Jährige hierzulande für ihre Hausaufgaben oder Prüfungsvorbereitungen künstliche Intelligenz benutzen – und erklärt, wie KI das Lernen für immer verändern wird.

Herr Wolter, in welchem Fach hätten Sie sich als Schüler gern von einer Maschine ersetzen lassen?

Geschichte habe ich geliebt. Bei anderen Fächern, speziell den Fremdsprachen, musste man mich eher zum Lernen prügeln. Da hätte ich wohl, wenn es damals schon die Möglichkeit von maschinellen Übersetzungen gegeben hätte, Mühe gehabt, mich überhaupt noch zum Lernen zu motivieren.

Heute können Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufgaben und andere schulische Aufgaben von einer Maschine erledigen lassen. Nun haben Sie erstmals für die Schweiz untersucht, wie viele das in Anspruch nehmen. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

In der Sekundarschule nutzt rund jeder dritte Jugendliche Programme wie Chat-GPT für schulische Aufgaben im Unterricht oder zu Hause, und das wöchentlich. Bei Übersetzungsprogrammen sind es sogar über die Hälfte. Im Gymnasium steigen diese Anteile auf 50 respektive 70 Prozent der Schülerschaft. Mit anderen Worten, die künstliche Intelligenz ist längst in der Schule angekommen.

Wie gut funktioniert das?

Wer die Maschine benutzt, verschafft sich einen Vorteil. Denn bereits jetzt gilt: Maschine schlägt Mensch. Eine aktuelle Untersuchung der OECD von 2024 zeigt zum Beispiel, dass der Computer die Aufgaben des Pisa-Tests so gut löst wie die besten 20 Prozent der Schüler – das sind die IQ-Turbos im Klassenzimmer –, und das in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften. Ein durchschnittlicher 15-Jähriger hätte also bei schulischen Aufgaben keine Chance im Wettbewerb mit der Maschine.

Da fragt es sich, wie man Kinder und Jugendliche überhaupt noch motiviert, etwas zu lernen, wenn man mit KI die eigenen Leistungen aufhübschen kann.

Das ist die grosse Herausforderung, vor der das Bildungswesen derzeit weltweit steht. Früher war es auch nicht einfach, aber man konnte die Schüler zumindest mit dem Argument locken, dass sie mit Lernen später etwas können, was sie ohne Anstrengung nicht erreichen. Diese Belohnung funktioniert heute nicht mehr, weil die Kinder scheinbar etwas «können», ohne es zu lernen.

«Bereits jetzt gilt: Maschine schlägt Mensch.»

Wie reagieren die Schulen darauf?

Indem sie zum Teil auf die sogenannte Gamification setzen.

Was bedeutet das?

Man gestaltet den Bildungsprozess als Erlebnis, holt also quasi das Kind bei seinem Spieltrieb ab. Die Lernanstrengung wird nun sofort und kontinuierlich durch Erfolgserlebnisse belohnt.

Den Spieltrieb wecken, dann läuft das Lernen von allein – ist das nicht etwas naiv?

Es ist nicht so naiv, wie man denkt. Ich kenne viele Leute, die solche Software programmieren, es wirkt bei den Schülern tatsächlich. Übrigens nicht nur bei den Schülern, sondern auch bei Erwachsenen. Nehmen Sie beispielsweise das Sprachlernprogramm Duolingo, das sich auch an Erwachsene wendet.

Das ja unglaublich nervig ist. Kaum klinkt man sich länger aus, bekommt man vorwurfsvolle Botschaften wie: «Du hast Duolingo traurig gemacht.»

Oder man bekommt Pokale. Ein Kollege von mir ist Stanford-Professor und lernt derzeit begeistert Deutsch damit. Aber wenn Bildung nur noch ein Spiel ist, kann das auch Nachteile haben, die wir derzeit unterschätzen.

Konkret?

Aus der Forschung wissen wird, dass mit Lernen, das mühsam sein kann und Aufwand erfordert, nebenbei auch Persönlichkeitseigenschaften gefördert werden, die für den späteren Erfolg im Leben wichtiger sein können als das Wissen, das man sich angeeignet hat. Nämlich Durchhaltewillen, Pflichtbewusstsein und Stresstoleranz. Es gibt die berechtigte Befürchtung, dass, wenn Lernen nur noch Spass machen soll, diese Aspekte auf der Strecke bleiben.

Chat-GPT und seine Nachfolger werden die Bildung für immer verändern. Welche Folgen hat KI konkret für das Lernen?

Unser Gehirn ist seit Urzeiten darauf getrimmt, Energie zu sparen, weil es extrem energiehungrig ist und täglich zwischen einem Fünftel und einem Viertel unserer Energie verbraucht. Unser Gehirn versucht also ständig, zu sparen, indem es Abkürzungen nimmt. Das Problem, das sich nun stellt, ist: Wenn man sich das mal abgekürzt angeeignet hat, weil man weiss, dass die KI das erledigt, kann man das unter Umständen nicht mehr lernen.

Zum Beispiel?

Eine Mutter hat mir folgende Begebenheit erzählt: Ihr siebenjähriger Bub kam nach Hause und sagte: «Mami, ich will kein Französisch lernen.» Sie antwortete: «Doch, das musst du machen, dann kannst du nachher diese Sprache.» Worauf das Kind erwiderte: «Ich kann schon Französisch.» Weil das Kind auf Deutsch in eine Übersetzungssoftware gesprochen hatte, und hinten kam Französisch heraus. Das Problem ist, dass das Kind in eine Motivationsfalle gerät und das Gehirn unbewusst zu streiken beginnt, wenn man trotzdem lernen sollte. Das Gehirn sagt sich, dass man keine Energie für etwas verschwenden sollte, was man auch ohne Anstrengung kann. Das hat man in der Psychologie schon vor Jahrzehnten vor KI gut erforscht und dokumentiert.

Das würde bedeuten, dass die Schulen keine KI einsetzen sollten.

Man kann diese Technologien nicht aussperren. Die Schüler haben sie längst entdeckt und nutzen sie einfach. Die Schule riskiert, die Deutungshoheit darüber zu verlieren, wie gelernt werden soll. Lehrkräfte und pädagogische Hochschulen müssen sich überlegen, wie man künstliche Intelligenz sinnvoll einsetzen kann.

Genau das passiere viel zu wenig, kritisierte kürzlich ein Professor in Deutschland. Viele Lehrkräfte würden KI noch zu wenig einsetzen. Er sprach von «unterlassener Hilfeleistung».

Wir wissen aus unseren Untersuchungen, dass heute in der Schweiz die technische Infrastruktur in den Schulen und den meisten Elternhäuser gut ist. Aber nicht nur Software generell, sondern auch viele dieser KI-Programme sind ja längst nicht mehr gratis. In diesem Sinn hat dieser Professor schon recht. Hier müssen die Schulen für Chancengleichheit sorgen. Eine KI-Strategie heisst nämlich auch, dass man sich überlegen muss, welche Lizenzen für Programme man kaufen soll, die man dann zur Verfügung stellt.

Doch stattdessen wird das Thema gerne auf die lange Bank geschoben?

Mein Eindruck, denn ich in den letzten zwölf Monaten an Anlässen gewonnen habe, ist, dass man das Thema fast ausschliesslich defensiv diskutiert. Da wird nicht über die Chancen gesprochen, die sich nun eröffnen, sondern nur über die Gefahren und darüber, wie schlecht KI eigentlich noch sei.

Der Klassiker ist, sich über Fehler in Übersetzungen lustig zu machen.

Als jemand, der geschäftlich täglich mit Übersetzungen zu tun hat, muss ich sagen: Ich habe noch praktisch nie eine Übersetzung bekommen, die von einem Menschen erstellt wurde und ohne Fehler war. Das heisst aber nicht, dass ich deshalb keine Übersetzung mehr in Auftrag gebe.

«Da wird nicht über die Chancen gesprochen, sondern nur über die Gefahren.»

Es wird von Schulen und vor allem auch von Hochschulen die Befürchtung laut, dass künstliche Intelligenz das Schummeln fördert. Was ist da dran?

Ja, KI fördert das. Das gilt vor allem für schriftliche Arbeiten. Aber nicht nur. Einer meiner Kollegen an der Uni Bern erzählte mir, dass er letztes Jahr seine Prüfungsfragen vorgängig an Chat-GPT ausgetestet hat. Als er sah, dass die Antworten von Chat-GPT noch Fehler und Unzulänglichkeiten aufwiesen, erlaubte er, die Prüfung auch unter Verwendung von KI-Tools zu schreiben.

Wo ist das Problem?

Er testete jetzt Fragen mit dem Schwierigkeitsgrad von letztem Jahr erneut – und Chat-GPT machte praktisch keine Fehler mehr. Die Maschine lernt unglaublich schnell! Wenn er nun den Schwierigkeitsgrad der Fragen so hochgeschraubt hätte, dass KI nur noch bedingt hilfreich gewesen wäre, wären sie für die Studierenden zu schwierig gewesen und hätten nicht mehr dem Niveau entsprochen, das er am Ende der Vorlesung hatte erwarten dürfen.

Und jetzt?

Wir sind ein bisschen ratlos. Die ETH Lausanne hat ja mal einen Versuch gemacht und erkannt, dass KI locker durch die ETH-Prüfungen gekommen wäre, während rund die Hälfte der Studenten diese nicht bestanden hat. KI ist einfach so intelligent geworden, dass es nicht mehr darum geht, ob das Können des Primarschülers dadurch ersetzt wird, sondern selbst Bachelor- oder Masterstudenten an den Universitäten werden durch die Problemlösungsfähigkeit von KI in den Schatten gestellt. Wir aber möchten wissen, was unsere Studierenden in der Lage sind zu leisten, und nicht, was die Techindustrie im Silicon Valley auf die Beine stellen kann.

Wie machen Sie persönlich das?

Ich habe an einer Prüfung eine Frage gestellt, die ich zuerst durch Chat-GPT beantworten liess. Die Antwort war eigentlich sehr gut – bis auf einen Satz, der einen kolossalen Logikfehler enthielt. Ich fand, es sei eine super Prüfungsaufgabe, ob die Studierenden den Logikfehler finden.

Was kam heraus?

Leider war die Beantwortung dieser Frage im Vergleich zu den Wissensfragen enttäuschend schlecht. Nur gerade ein einziger Student hatte die richtige Verbindung gemacht.

Vielleicht war dieser Test auch einfach etwas fies.

Es war nur ein kleiner Teil der Prüfung, also für sich allein nicht matchentscheidend. Da das Ziel einer universitären Ausbildung ist, Menschen auszubilden, die sich kritisch mit Wissen und Fakten auseinandersetzen können und nicht einfach Wissen wiedergeben, müsste ich in Zukunft aber vielleicht mehr dieser Fragen verwenden.

KI gewinnt nicht nur an Schulen und Universitäten an Einfluss, sondern prägt auch zunehmend die Arbeitswelt. Was müssen wir tun, um uns nicht eines Tages überflüssig zu machen?

Eine mögliche Strategie ist, selber viel zu wissen, und wenn man dann auch weiss, wie man KI produktiv einsetzen kann, wird man noch produktiver, und zwar sowohl quantitativ als auch qualitativ. Dann ist man auf dem Arbeitsmarkt gefragt.

Welche Berufe wird man nie durch KI ersetzen können? Handwerker?

Auch nur zum Teil, da gibt es immer häufiger Roboter, die komplexe Arbeiten übernehmen. Zukunftssicherer sind Jobs, die einen zwischenmenschlichen Kontakt erfordern, zum Beispiel im Gesundheits- oder Pflegewesen. Oder auch im künstlerischen Bereich. Bis ein Roboter auf die Theaterbühne fährt und einen Schauspieler ersetzt, wird es hoffentlich noch lange dauern, auch wenn statt der Gruppe Abba schon Avatare auftreten. Aber wir sind grundsätzlich an einem Punkt angekommen, wo man sagen muss, dass es fast keine Berufe gibt, die nie gefährdet sein werden.

Und wie ist das bei Ihnen: Wann werden Sie durch KI ersetzt?

Ich rette mich vorher in die Pensionierung. Nein, ernsthaft, ich habe für einmal das Glück der frühen Geburt. Ich musste mir menschliche Kompetenzen zu einem Zeitpunkt aneignen, in denen es noch keine technologische Alternative gab, und ich gehöre hoffentlich zu jenen, deren Arbeit durch KI eher besser und produktiver wird.