Fragen und Antworten zur Ost-OffensiveKann die Ukraine Russland stoppen? Kommen die Waffen an die Front?
Wladimir Putin hat die Offensive in der Ostukraine gestartet. Was er damit bezweckt und was auf die Ukrainer zukommen könnte. Ein Überblick.
Die aktuelle Lage
In der Ukraine haben die russischen Truppen mit dem erwarteten Grossangriff im Osten begonnen. Nachdem der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bereits am Montagabend in einer neuen Videobotschaft sagte, dass die russischen Truppen die Schlacht um den Donbass begonnen hätten, teilte das russische Verteidigungsministerium mit, dass in der Nacht auf Dienstag «hochpräzise luftgestützte Raketen» 13 ukrainische Stellungen in Teilen des Donbass getroffen hätten, darunter die Stadt Slowjansk. Bei weiteren Luftangriffen seien «60 militärische Einrichtungen der Ukraine» getroffen worden, darunter auch welche in Städten nahe der östlichen Frontlinie.
Nach Angaben des Ministeriums zerstörten russische Truppen zwei Lagerhäuser mit Sprengköpfen von taktischen Toschka-U-Raketen in Tscherwona Poljana in der Region Luhansk und in Balaklija in der Region Charkiw. Insgesamt seien in der Nacht 1260 militärische Ziele durch Raketen und Artillerie getroffen worden, teilte das Ministerium weiter mit. Russische Luftabwehrsysteme hätten ausserdem ein ukrainisches MiG-29-Kampfflugzeug in der Region Donezk abgeschossen.
In der umkämpften ukrainischen Hafenstadt Mariupol hat am Dienstag nach Angaben prorussischer Separatisten die Erstürmung des Stahlwerks Asowstal begonnen. In dem Stahlwerk sollen sich nach russischen Angaben rund 2500 Kämpfer verschanzt haben, darunter auch 400 ausländische Söldner. Ukrainischen Medien zufolge sollen in dem Werk noch rund 1000 Zivilisten ausharren, unter ihnen auch Frauen und Kinder.
Zum Sturm auf das Stahlwerk sagte der prorussische Separatistenvertreter Eduard Bassurin am Dienstag Staatsmedien in Moskau, es seien spezielle Truppen zusammengestellt worden, die mit ihrer Arbeit begonnen hätten. Russische Luftwaffe und Artillerie unterstützen sie. Alle Stadtteile in Mariupol seien bereits eingenommen.
Was will Putin mit seiner Armee erreichen – und wie steht es um die Moral seiner Truppen?
Nachdem die russische Armee mit dem Versuch gescheitert ist, Kiew einzuschliessen, hat Moskau Ende März erklärt, sich auf den Süden und den Osten der Ukraine zu konzentrieren, was die Offensive in der Nacht auf Dienstag nun verdeutlicht hat. Putins Ziel scheint zu sein, den Donbass – ein Bergbaurevier im Osten des Landes, welches für die ukrainische Wirtschaft essenziell ist – einzunehmen.
Russlands Armee wird nun versuchen, die ukrainischen Truppen im Osten einzukreisen. Der britische Ex-General Richard Barrons glaubt, dass die russischen Streitkräfte womöglich einige Lehren aus den ersten 54 Kriegstagen gezogen hätten, wie er gegenüber BBC erklärte. Russland könnte jetzt versuchen, sich militärisch eher einer Sache zu widmen, als viele Dinge gleichzeitig zu tun. Die Truppen stünden konzentriert hinter der «Donbass-Operation». Dies beinhalte sowohl Feuerkraft und Logistik als auch das Kommando, welches unter der Führung eines einzigen Generals stünde. Barrons betont aber auch, dass die russischen Soldaten, die für Verstärkung sorgen sollen und jetzt quer durch Russland transportiert würden, möglicherweise nicht besser ausgebildet seien als die bisherigen und deren Moral «nach den Rückschlägen», die sie während der letzten Kriegstage erlitten hätten, definitiv nicht stärker sein wird, so Barrons.
Am 9. Mai feiert Russland traditionell den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland mit einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau. Westliche Regierungen gehen deshalb davon aus, dass die russischen Streitkräfte unter Druck stünden, bis zum 9. Mai Erfolge in der Ukraine zu erzielen. Putin werde in seiner Rede Parallelen zwischen dem sowjetischen Sieg über Nazi-Deutschland und seinem erklärten Ziel der «Entnazifizierung» der Ukraine ziehen wollen.
Kann die Ukraine dagegenhalten?
Zwar vermeldete die ukrainische Armee am Dienstag die Abwehr von sieben Angriffen der Russen in den letzten 24 Stunden in der Region Luhansk. 10 Kampfpanzer, 18 Panzerfahrzeuge, acht Militärfahrzeuge, ein Artilleriesystem und ein Mörser mit Mannschaft seien vernichtet worden, teilte der Generalstab der ukrainischen Armee auf Facebook mit. Dennoch stehe die Ukraine nun vor einem «grösseren Problem», sagt der Militärexperte Barrons. In der Donbass-Region gebe es mehr offenes Gelände, und je besser das Wetter werde, desto mehr Gelegenheiten hätten die russischen Panzer, offroad zu manövrieren, wie er dem Radiosender von BBC erklärt.
Auch Jack Watling vom britischen Verteidigungs- und Sicherheits-Thinktank (Rusi) erwartet bei den Russen eine bessere Manövrierfähigkeit als bei der Offensive auf Kiew, als die Truppen auf zwei Strassen vorrückten und Mühe hatten, diese wegen Sümpfen und dichten Waldgebiets zu verlassen. Watling erwartet zudem mehr Kontaktkämpfe, in denen russische und ukrainische Einheiten direkt aufeinanderprallten, wie er gegenüber BBC erwähnte.
Sind Waffenlieferungen in die Ukraine noch möglich?
«Ihr könnt den Krieg viel kürzer machen. Je schneller und in grösserer Zahl wir die Waffen erhalten, die wir angefordert haben, desto stärker wird unsere Position sein und desto schneller wird der Frieden kommen», sagte Wolodimir Selenski in einer Videobotschaft, in der er seine Forderung nach mehr Waffenlieferungen aus dem Westen bekräftigte.
Auch Oleksiy Goncharenko, ein ukrainischer Abgeordneter, fordert mehr Waffen aus dem Westen: «Die Welt sollte erkennen, dass wir mit Russland kämpfen, der grössten Armee in Kontinentaleuropa, mit einem Land mit einem Waffenbudget, das um ein Vielfaches höher ist als das der Ukraine, also brauchen wir mehr Waffen.»
Und Igor Zhovkva, stellvertretender Leiter von Selenski Büro, bekräftigte gegenüber BBC, dass es «sehr wichtig sei, dass die ukrainischen Streitkräfte über schwere Waffen verfügten.» Damit werden sie der russischen Offensive standhalten und in der östlichen Region siegen können, sagte er.
Dass die russische Armee dabei nicht untätig zusehen wird, hat sie mit dem Angriff in der Nähe der westukrainischen Stadt Lwiw gezeigt, als sie ein grosses Waffendepot zerstört hatte, in dem aus dem Westen gelieferte Waffen gelagert worden sein sollen. Mit weiteren Angriffen ist zu rechnen.
Unterdessen lieferten die USA dennoch neue Waffen an die Ukraine. Vier Flugzeuge hätten am Sonntag militärisches Gerät angeliefert, teilte ein hoher Vertreter des US-Verteidigungsministeriums mit. Dabei handelt es sich um die ersten Lieferungen aus dem neuen militärischen Hilfspaket im Volumen von 800 Millionen Dollar (rund 737 Millionen Euro), welches das Weisse Haus am Mittwoch angekündigt hatte. Zu diesem Paket gehören 18 155-Millimeter-Haubitzen, 200 gepanzerte Personentransporter vom Typ M113, elf Mi-17-Hubschrauber, 100 weitere Panzerfahrzeuge sowie Artilleriemunition. Laut Pentagon-Sprecher John Kirby sollen US-Soldaten in den nächsten Tagen damit beginnen, ukrainische Militärs im Gebrauch der modernen 155-Millimeter-Haubitzen auszubilden. Ein fünfter Flug werde in Kürze folgen.
Auch der britische Premierminister Boris Johnson hatte dem ukrainischen Präsidenten die Lieferung bewaffneter Fahrzeuge in den kommenden Tagen versprochen. Johnson habe Selenski versichert, Grossbritannien werde der Ukraine weiterhin Material bereitstellen, um sich selbst zu verteidigen, hiess es am Wochenende in einer Mitteilung der Downing Street.
Können Menschen aus den umkämpften Regionen flüchten?
Für Zivilistinnen und Zivilisten in den umkämpften und belagerten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine wird die Lage immer kritischer. Zwar haben die ukrainischen Behörden die Menschen in der südöstlichen Donbass-Region aufgefordert, nach Westen zu fliehen, um der gross angelegten russischen Offensive zur Einnahme der Region zu entgehen. Doch nunmehr den dritten Tag in Folge können die Menschen dort nicht über organisierte Fluchtkorridore fliehen.
Die ukrainischen Behörden stoppten am Montag erneut die Evakuierung. Sie warfen den russischen Truppen vor, Fluchtkorridore zu blockieren und zu beschiessen. Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk appellierte an Moskau, Fluchtkorridore von Mariupol nach Berdjansk zu öffnen.
Sollte die russische Seite dies weiter verweigern, könnte dies Anlass für die spätere strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen wegen Kriegsverbrechen sein, warnte sie.
sda/afp/nag
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