Antisemitismus in Deutschland«Wollt ihr jüdisches Leben überhaupt?»
85 Jahre nach ihrer Zerstörung durch die Nationalsozialisten soll die einst grösste Synagoge Hamburgs wiederaufgebaut werden. Warum jetzt? Warum erst jetzt?

Daniel Sheffer führt den Besucher auf seine ganz eigene Weise durch die Synagoge, warmherzig und eindringlich. Fröhlich und mit Sinn für Pointen schildert er ihre Funktion, aber genauso, warum sie aus seiner Sicht im Grunde ein Provisorium bleibt. Ein Platzhalter für eine alte Synagoge: die einst berühmte am Bornplatz.
Die neue Synagoge Hohe Weide steht in Hamburg in einem Wohnquartier, ein von aussen schmuckloser Zweckbau zwischen Sportplätzen und U-Bahn-Gleisen, 1960 geweiht. Innen wirkt der Versammlungsraum einladend, hell und bunt. Mit besonderer Liebe spricht Sheffer über zwei Gegenstände, die er vor sich hat: einen purpurnen Vorhang und eine silberne Krone.

Die Parochet, so heisst der Prunkvorhang, verbirgt den Schrein mit der Thora, der Heiligen Schrift. Sheffer zeigt auf das, was dem Vorhang aufgestickt ist: ein goldenes Abbild der prächtigen Bornplatzsynagoge. Geweiht 1906, 1938 von den Nationalsozialisten gebrandschatzt und geplündert, 1939 zerstört und abgerissen. Vor 85 Jahren also.
Aus Sicht der Gemeinde hält das Bild der verlorenen Synagoge in der neuen die Sehnsucht nach Sicherheit und Gleichberechtigung wach. Sie bildet einen Horizont: So hat unser Gotteshaus ausgesehen, so könnte es wieder erstehen!

Nach dem Holocaust lebten in Hamburg nur noch wenige Juden, für die wenigen baute die Stadt Ende der 1950er-Jahre die neue Synagoge Hohe Weide. Sheffers Vater, ein Wiener Jude, der in Palästina als Einziger seiner 23-köpfigen Familie die Shoah überlebt hatte, kehrte Mitte der 1970er-Jahre von Israel nach Europa zurück und liess sich in Hamburg nieder. Fünfjährig war Daniel damals.
Die jüdische Gemeinde war in jener Zeit wenig nach aussen gerichtet, lebte ohne Illusionen, aber auch ohne Vision. Die Generation von Sheffers Vater sprach von einer «Verwaltungsgemeinde», vieles fühlte sich nach Übergangslösung an. Schon damals, erzählt Sheffer, habe der Wunsch existiert, die Synagoge am Bornplatz wiederaufzubauen. Aber die meisten hätten nur mit den Achseln gezuckt. Es fehlte an Anspruch, Geld, Unterstützung, Mut.
Der Angriff auf die Synagoge von Halle als Auslöser
Die Lage änderte sich, als nach dem Zerfall der Sowjetunion Zehntausende Juden nach Deutschland auswanderten, viele auch nach Hamburg. Die orthodoxe Gemeinde wächst seither wieder, 2400 Menschen gehören ihr heute an. Mit dem Zuwachs wuchsen Mut und Zuversicht, das Selbstbewusstsein auch.
Dennoch brauchte es einen Impuls von aussen, um den Wiederaufbau auf die Agenda zu setzen. Im Oktober 2019 attackierte ein Rechtsextremist die Synagoge im ostdeutschen Halle, nur durch Glück wurde ein Massaker verhindert. Erschüttert darüber regten Stimmen im Hamburger Stadtparlament an, man müsse jetzt ein kräftiges Zeichen für jüdisches Leben setzen, auch in Hamburg. Könnte nicht eine neue Bornplatzsynagoge dieses Symbol sein?
Als der Landesrabbiner Shlomo Bistritzky sich öffentlich hinter den Wiederaufbau stellte, kam die Sache in Fahrt. In der Politik war die Unterstützung gross, die Gemeinde war elektrisiert. Und dann kam die erwähnte Krone ins Spiel – und mit ihr Daniel Sheffer.

Im Sommer 2020 bot ein Hamburger Antiquitätenhändler Bistritzky und Sheffer eine sogenannte Thorakrone zum Kauf an, einen kopfgrossen silbernen Schmuck, der manche Thorarollen ziert. An der Inschrift liess sich erkennen, dass diese Krone aus der zerstörten Bornplatzsynagoge stammte. Sheffer war ergriffen – aber auch wütend, denn der Händler verlangte für das einst geraubte Stück natürlich Geld.
«Dennoch hätte ich jeden Preis bezahlt», erinnert er sich. Er kaufte die Krone. Seine Ergriffenheit blieb, die Wut aber auch. «Für mich persönlich war das ein Wendepunkt. Danach sagte ich mir: So, und jetzt holen wir uns die Synagoge zurück. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit.»

Sheffer, heute 53 Jahre alt und Vorsitzender der Stiftung Bornplatzsynagoge, war nie Gemeindefunktionär, sondern erfolgreicher Unternehmer. An diesem Punkt aber legte er seine eigentliche Arbeit für drei Monate nieder und startete eine Kampagne.
Innert Wochen sammelte er zusammen mit vielen Unterstützerinnen und Unterstützern 100’000 Unterschriften für den Wiederaufbau. Im Dezember 2020 reservierte der Bundestag in Berlin 65 Millionen Euro, wenn sich die Hamburger Regierung mit demselben Betrag beteilige. Das Stadtparlament stimmte dem Vorhaben einstimmig zu, im vergangenen September gab es das Grundstück am Bornplatz definitiv an die jüdische Gemeinde zurück. Seither ist die Frage nicht mehr, ob die alte Synagoge wiederaufgebaut wird, sondern nur noch wie und wann.
Das Grindelviertel galt einst als Klein-Jerusalem
Das Grindelviertel, zu dem der Bornplatz gehört, der heute Joseph-Carlebach-Platz heisst, nach dem 1942 ermordeten letzten Rabbiner der alten Synagoge, liegt mitten in Hamburg. Vor 1933 lebten dort 18’000 Juden, neun Synagogen gab es. Auch heute ist das Quartier lebendig, mit vielen jungen Leuten von der Universität.
Sheffer führt über den Platz, erläutert das frühere, das heutige, das künftige Ensemble. Wie vor dem Krieg steht die 1911 erbaute Talmud-Thora-Schule da, die seit 2007 wieder eine jüdische Schule ist. Ebenso ein weisser Hochbunker, den die Nazis nach dem Abriss der Synagoge erbauten. Am Boden schliesslich ein grosses Mosaik, ein Gedenkort, der seit 1988 mit einem stilisierten Grundriss daran erinnert, dass hier ein jüdisches Gotteshaus stand, bevor es von Deutschen zerstört wurde. Wird die Synagoge wieder aufgebaut, müssen Bunker und Mosaik weichen.

Daran gab und gibt es auch Kritik – wenn auch von eher unerwarteter Seite: von Historikerinnen und Historikern, die sich mit jüdischem Leben in Deutschland und der Erinnerung an den Holocaust beschäftigen, aber auch von Nachfahren von Hamburger Juden, die heute in den USA oder in Israel leben.
Miriam Rürup, Hamburg-Kennerin und Direktorin des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam, bringt die Kritik im Gespräch auf den Punkt: Ein originalgetreuer Wiederaufbau könne ungewollt so wirken, als liesse sich die Lücke, die die nationalsozialistische Geschichte geschlagen hat, überbauen und damit architektonisch schliessen.
Das Bodenmosaik bezeichne genau diese Lücke. Es verweigere sich einer versöhnlichen Architektur, die das Vorkriegsbild wiederherstellen würde. «Es könnte wie ein falsches Symbol wirken», fürchtet Rürup. Wie ein unbeabsichtigter «architektonischer Schlussstrich» unter die Geschichte – und damit unfreiwillig rechtsextremen Geschichtsbildern in die Hände spielen.

Sheffer versteht die Kritik, widerspricht aber im entscheidenden Punkt: «Ausgerechnet uns vorzuwerfen, wir wollten die Geschichte vergessen machen, finde ich einfach absurd. An welchen Tischen fehlen denn die Vorfahren – an unseren oder an denen der Nichtjuden?»
Ihm missfällt auch die Forderung, nur ein radikal moderner Synagogenbau wie in München oder Dresden könne den hohen Ansprüchen der deutschen Erinnerungskultur genügen: «Wollen wir uns wirklich gegenseitig vorschreiben, wie unsere Gotteshäuser auszusehen haben?» Auch der Michel, Hamburgs Stadtkirche aus dem 17. Jahrhundert, sei nach dem Krieg identisch wiederaufgebaut worden. Sheffer wünscht sich einen Bau, der dem alten zumindest äusserlich ähnelt: «Ich möchte, dass eine Verbindung zur Geschichte vor 1933 sicht- und spürbar ist.»

Im Kern gehe es ihm freilich nicht um Architektur, sondern um eine Frage, die er der nichtjüdischen Stadtgesellschaft jetzt offen stelle: «Wollt ihr jüdisches Leben überhaupt? Und zwar nicht irgendwo am Rande der Stadt, sondern in eurer Mitte, weithin sichtbar, lebendig? Darauf erwarten wir jetzt eine Antwort.»
Seit dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober und Israels Krieg in Gaza kocht der Hass auf die Juden in Deutschland hoch wie selten, von rechts, von links, von islamistischer Seite – neu ist er aber keineswegs. Sheffer weiss auch nicht, was man dagegen tun kann. Dass der Wiederaufbau einer Synagoge dabei helfen könnte, glaubt er eher nicht: «Menschen bekämpfen Antisemitismus, nicht Steine.»
Für die Sicherheit der jüdischen Gemeinde ist aus seiner Sicht das Verhalten der Nichtjuden entscheidend. Es genüge ihm nicht, wenn die Stadt sich rituell hinter sie stelle. «Wir brauchen sie neben und vor uns.»
Den Wiederaufbau vor Augen hegt die Gemeinde eine Utopie: Sie möchte, dass die neue alte Synagoge ohne Zäune auskommt – anders als die jüdische Schule oder die Synagoge Hohe Weide, vor der ständig die Polizei patrouilliert. Sheffer weiss, dass das heute noch unrealistischer erscheint als vor einigen Jahren. Die Lage fordere aber weniger die Juden oder die Polizei heraus als vielmehr die gesamte Gesellschaft. «Oder sollen Juden in Deutschland wirklich dauerhaft hinter Zäunen leben?»
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