Antisemitismus in Deutschland«2024 ist ein Schicksalsjahr»
Hakenkreuze auf Schildern, Hitlergrüsse im Krematorium: An Gedenkstätten wie dem KZ Buchenwald in Thüringen häufen sich Übergriffe. Warum jetzt? Was kann man tun?
Scheinbar ruhig liegt der Hang in der Wintersonne, wo sich einst das Konzentrationslager Buchenwald befand. Weit ziehen sich die Terrassen hin, auf denen die Baracken für die Häftlinge standen. Vereinzelte Gäste und Schulklassen beugen sich im steifen Wind über Gedenktafeln. Dunkel ragt der Schornstein des früheren Krematoriums in den Himmel. Im Innern weiss gekachelte Wände, gestapelte Urnen, Verbrennungsöfen, eine Genickschussanlage. «Jedem das Seine» urteilt die geschmiedete Inschrift am Lagertor.
Mehr als eine Viertelmillion deutsche und ausländische «Feinde» haben die Nationalsozialisten von 1937 bis 1945 hier interniert, wenige Kilometer von der Goethe-Stadt Weimar entfernt. 56’000 von ihnen starben oder wurden umgebracht. Buchenwald war eines der grössten Konzentrationslager auf deutschem Boden; wegen der vielen ausländischen Opfer hat seine Gedenkstätte eine Bedeutung weit über Deutschland hinaus.
Nur, ruhig ist hier gar nichts. Seit einiger Zeit kommt es immer häufiger zu Provokationen und Übergriffen von Neonazis. Begonnen habe es damit schon früher, sagt Jens-Christian Wagner, der Direktor der Stiftung, welche die Gedenkstätte für das KZ Buchenwald und dessen Aussenlager betreibt. «Aber so schlimm wie jetzt war es selten.»
Täglich gehen in Buchenwald Nachrichten ein, welche die Opfer und ihr Andenken verhöhnen, erscheinen in den sozialen Medien beleidigende Kommentare. Wagner erhält an seine Adresse täglich Post voller Hass. Zuletzt etwa eine Zeitungsseite, auf der ein Bild von ihm zu sehen ist, neben seinem Kopf eine gezeichnete Sprechblase: «Ich bin ein widerliches Stück hebräische Scheisse.»
Provokationen und abgesägte Bäume
Immer wieder werden in der Gedenkstätte Hakenkreuze oder SS-Runen auf Gedenktafeln oder Wegweiser geschmiert. Wagner deutet in seinem Büro auf einen dicken Stapel von Schildern, die deswegen ausgewechselt werden müssen. Neonazis zeigen im Krematorium den Hitlergruss, fotografieren sich dabei und präsentieren das Bild danach als Trophäe in den sozialen Netzwerken.
Am Gedenkort «1000 Buchen» werden immer wieder frisch gepflanzte Buchen gefällt, manche sogar mehrmals nacheinander. An 50 der bisher 250 gepflanzten Bäume sei schon die Säge gelegt worden, erzählt Wagner. Und dann gibt es noch jene, die in Besuchergruppen provozieren, indem sie den Massenmorden der Nationalsozialisten deutsche Opfermythen entgegenstellen, um die Verbrechen zu verharmlosen.
Die Gedenkstätte reagiert mit Anzeigen, Hausverboten, Unterlassungsklagen. Die Polizei wacht, Sicherheitsleute passen auf. In den meisten Fällen findet man aber nie heraus, wer Hakenkreuze geschmiert oder Buchen gefällt hat. Man habe zuletzt – zu Recht – viel über islamistischen und antiimperialistischen Antisemitismus berichtet, sagt Wagner. Aber bei ihnen seien die Täter fast ausnahmslos Neonazis.
Manche seiner Leute in der Gedenkstätte belasten die Übergriffe, den 57-jährigen Direktor selbst eher wenig. Die Schmähung als «Erinnerungsterrorist» verwendete er eine Zeit lang sogar als ironische Selbstbeschreibung in seinem Profil auf Twitter.
Mit Entsetzen reagieren hingegen viele Besucherinnen und Besucher auf die Attacken. Aus Frankreich oder Israel habe er Briefe mit Vorwürfen erhalten, warum sie nichts dagegen unternähmen. Mindestens so oft wie Hassbriefe von Neonazis erhalte er umgekehrt Schreiben, die der Stiftung ihre Solidarität aussprächen. «Manche besuchen uns auch ganz bewusst deswegen.»
Auf die Frage, warum die Anfeindungen gerade jetzt so zunähmen, hat der Historiker eine klare Antwort: Der geschichtspolitische Diskurs im Land verschiebe sich seit Jahren nach rechts, Deutschland erlebe einen «erinnerungspolitischen Klimawandel». Hauptverantwortlich dafür sei eine Partei mit drei Buchstaben: AfD.
Der Anstieg der Attacken gegen die Gedenkstätten korreliere mit dem Aufstieg der Alternative für Deutschland seit 2015. In Thüringen, wo das KZ Buchenwald stand, liegt die Partei in den Umfragen derzeit bei 35 Prozent. Sie wolle erklärtermassen die Geschichte umschreiben, sagt Wagner.
«Leute wie Höcke bereiten den geistigen Nährboden»
Deutschland brauche «eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad», sagte der Thüringer AfD-Anführer Björn Höcke schon 2017. Politiker wie Höcke, meint Wagner, trügen ihre geschichtsrevisionistischen Thesen heute mitten in die Parlamente, mitten in die Gesellschaft. «Ich sage nicht, dass Höcke Hakenkreuze schmiert oder Buchen fällt. Aber Leute wie er bereiten den geistigen Nährboden dafür.»
Angriffe auf Gedenkstätten gebe es überall in Deutschland, doch Thüringen sei seit 100 Jahren ein besonders fruchtbarer Grund für völkische Ideen: 1924 sei hier die erste Landesregierung gebildet worden, die auf die Duldung durch die NSDAP angewiesen gewesen sei, 1930 regierte die Hitler-Partei hier erstmals mit. Nach der Wiedervereinigung bildeten sich hier sowohl der «Thüringer Heimatschutz» als auch die Terrorbande des NSU.
Hilft Erinnerung gegen Antisemitismus?
Tun könne man gegen die Übergriffe dreierlei, meint Wagner: In der Gedenkstätte selbst sei eine glasklare Haltung nötig, jeder Normalisierung von Geschichtsrevisionismus müsse man entgegentreten. Die Stiftung müsse, zweitens, stärker «in die Gesellschaft hineingehen», um mit Vorträgen, Wanderausstellungen und in den sozialen Medien Desinformation mit historischen Fakten zu widerlegen. Drittens müsse sich die Bildungsarbeit der Gedenkstätten kräftig erneuern.
«Wir müssen uns von diesen zweistündigen Führungen verabschieden, in denen vorne jemand etwas erzählt, und die anderen hören zu. Das ist einfach nicht nachhaltig. Die Menschen gehen mit demselben Geschichtsverständnis nach Hause, mit dem sie hergekommen sind.» Besser sei es, mit weniger Leuten länger und intensiver zu arbeiten.
Holger Obbarius, der die Bildungsarbeit der Gedenkstätte leitet, gibt Beispiele. Schülerinnen oder Schülern aus der Ukraine, aus Syrien oder mit türkischem Hintergrund ermöglicht er das Studium von Quellen über türkische, ukrainische oder syrische Häftlinge im KZ Buchenwald. So lässt sich Nähe und Interesse auch bei Jugendlichen herstellen, die allenfalls eine eigene Flucht- oder Verfolgungsgeschichte mitbringen und mit der genuin deutschen Verbrechensgeschichte auf Anhieb vielleicht wenig anfangen können.
Ein muslimischer Schüler kommentierte kürzlich die verschwörungserzählerische Konstruktion, die Juden beherrschten die Welt, mit dem Satz: «Aber das ist doch wahr!» Obbarius fragte ihn, woher er das wisse. Es stellte sich heraus, dass ein deutscher Influencer auf einer beliebten Gaming-Plattform das sagt und der Schüler ihm glaubt. «Ich habe versucht, ihn davon zu überzeugen, dass der Gamer keine glaubwürdige Quelle für geschichtliche oder politische Statements ist.»
Weg von den Opfern – hin zur «Tätergesellschaft»
Selbst mit mehr Zeit und pädagogischem Geschick, weiss Obbarius, sind KZ-Gedenkstätten keine Läuterungsmaschinen, die Menschen den Antisemitismus austreiben, egal, woher sie ihn haben. «Ich mache mir nicht die Illusion, dass wir aus überzeugten Antisemiten Menschen machen, die Israel befürworten und Synagogen in Deutschland schützen.» Bei jenen, die noch keine festgefügten Meinungen hätten, könne man aber sehr wohl etwas bewirken. Und jene, die bereits gegen Judenhass eingestellt seien, bestärken.
Das Hauptaugenmerk der Bildungsarbeit, findet Jens-Christian Wagner, sollte von den Opfern weg auf die «Tätergesellschaft» schwenken. Wer hat die Opfer eigentlich zu Opfern gemacht, mit welchen Prozessen der Entmenschlichung? Was hat junge SS-Wachsoldaten motiviert, begeistert mitzutun? Was lässt sich daraus für die heutige Zeit lernen? «Wir müssen das Bewusstsein dafür wachhalten, dass die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen den Grund für unsere demokratische Selbstverständigung legt.»
Auf einmal musste sich Wagner einmischen
Was das konkret bedeuten kann, hat Wagner im vergangenen Herbst erlebt. Da mischte er sich mit seiner Autorität erstmals mit ganzer Kraft öffentlich in einen Wahlkampf ein, um zu verhindern, dass in Nordhausen der AfD-Politiker Jörg Prophet zum Oberbürgermeister gewählt wird. In der thüringischen Stadt lag eine wichtige Aussenstelle des KZ Buchenwald: Das KZ Mittelbau-Dora, über das Wagner seine Doktorarbeit geschrieben hat. Prophet wiederum publizierte im Wahlkampf geschichtsrevisionistische Dokumente und verwendete das rechtsextremistische Signalwort «Schuldkult».
«Wir haben in der Stiftung kontrovers diskutiert, ob wir uns einmischen sollen. Ich fand, wir müssen. Andere meinten, das helfe eher der AfD. Schliesslich sah ich es einfach als meine Pflicht an.» Beobachter meinen, Wagners Auftritt habe am Ende die Wahl mitentschieden – gegen die AfD.
«Die Leute hier brauchten einen moralischen Kick»
«Sicher ist, dass wir die Zivilgesellschaft vor Ort ermutigt haben, selbst aktiv zu werden», erinnert sich Wagner. «Die brauchten einen moralischen Kick, um aus ihrer Schockstarre aufzuwachen.» Und plötzlich seien viele aufgestanden: die Studierenden, die Sozialverbände, die Kirchen.
Bis fast zuletzt habe er nicht an eine Wende geglaubt. «Aber dann kamen zu unserer letzten Versammlung viel mehr Menschen als erwartet, die Stimmung war erstaunlich fröhlich. Da dachte ich: Vielleicht geht doch noch was.»
In Thüringen steht viel auf dem Spiel
Der Erfolg hat Wagner gelehrt, dass «zivilgesellschaftlich engagierte Demokratinnen und Demokraten vor allem auf dem Land und in der Provinz unseren Rückhalt benötigen». Jetzt, da in Deutschland auf einmal Hunderttausende gegen Rechtsextremismus und gegen die AfD auf die Strasse gehen, solle man nicht vergessen, dass das in den Dörfern und Kleinstädten im Osten viel mehr Mut verlange als in Berlin, München oder Hamburg. «Wir haben die Leute auf dem Land zu lange alleingelassen», meint Wagner. «Die müssen wir stärken.»
Für die Bundesländer Thüringen, Sachsen und Brandenburg, die im September ihre Landtage wählen, sei 2024 «ein Schicksalsjahr». Die Ereignisse von 1924 – eine NSDAP an der Schwelle der Macht – wirkten heute, allen historischen Unterschieden zum Trotz, wie eine Blaupause für das, «was wir 100 Jahre später erleben könnten». «Mit einer Einschränkung: 1924 wusste keiner, wie es ausgeht. Wir hingegen wissen, wie es damals ausging. Und sollten heute deshalb umso wachsamer sein.»
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