Grossbritannien ohne FührungJohnson und seine «Zombie-Regierung»
Der britische Premier will nichts Wichtiges mehr entscheiden, obwohl drängende Probleme die Bevölkerung belasten, etwa die steigenden Lebenshaltungskosten.
Boris Johnson ist seit letzter Woche wieder zurück aus den Ferien. Und damit keine falschen Hoffnungen entstehen, hat er schon mal eines klargestellt: Er habe nicht vor, in seinen letzten Wochen als Premier bedeutende Entscheidungen zu treffen. Und sei «absolut sicher», dass, wer auch immer ihm nachfolge, zu gegebener Zeit Antworten geben werde auf das, was das Land umtreibe.
Die Frage ist nur, ob das Land so lange warten kann. Da wäre zum Beispiel die Sache mit den Energiepreisen. Laut neuester Prognose wird ein britischer Durchschnittshaushalt in diesem Winter wohl mehr als doppelt so viel für Gas und Strom zahlen müssen wie bisher. Und damit deutlich mehr als von der Regierung erwartet.
Kein Wunder, dass die Opposition und Wirtschaftsverbände Johnson nun auffordern, den Sommer zu nutzen, um sich aufs Schlimmste vorzubereiten. Bislang hat die Regierung eine Entlastung von 400 Pfund, umgerechnet 456 Franken, pro Haushalt angekündigt. Doch Experten sind sich einig, dass dies nicht reichen wird, um viele Menschen davor zu schützen, in die Armut abzurutschen. So warnte etwa der frühere Labour-Premier Gordon Brown vor einer «finanziellen Zeitbombe» und verlangte einen Notfallhaushalt. (Lesen Sie auch den Artikel: «Millionen werden in den Abgrund stürzen: Gordon Brown schlägt Alarm».)
Eine Regierung, die nicht wirklich präsent ist
Dem schlossen sich Wirtschaftsverbände an und forderten die beiden Kandidaten für Johnsons Nachfolge auf, sich an einen Tisch zu setzen, um schon jetzt Massnahmen vorzubereiten. Doch bislang sieht es nicht so aus, als ob es dazu kommt. Labour spricht deshalb von einer «Zombie-Regierung», also einer Regierung, die nicht wirklich präsent ist.
Als etwa die Bank of England unlängst durchaus dramatische Wirtschaftsprognosen verkündete, verbrachte Johnson gerade seinen Honeymoon mit Frau Carrie in Slowenien. Die Notenbank rechnet damit, dass die Inflationsrate in Grossbritannien gegen Ende des Jahres weiter stark steigt, und zwar auf 13 Prozent. Aussichten wie diese sind es, die den Kampf um Johnsons Nachfolge überschatten.
Letzte Woche fand das fünfte sogenannte Husting statt. Bei einer Art Townhall-Meeting stellen sich dabei die zwei Kandidaten den Fragen von Tory-Mitgliedern, die noch bis 5. September Zeit haben, sich zu entscheiden, wer dann künftig Parteichef oder -chefin beziehungsweise Premierminister oder -ministerin werden soll: Aussenministerin Liz Truss oder Ex-Finanzminister Rishi Sunak. Beide standen nacheinander auf einer Bühne in Darlington im Nordosten Englands und mussten erst einmal die Fragen des Moderators beantworten.
Die zentrale Frage lautet: Was wollen Truss und Sunak gegen die steigenden Lebenshaltungskosten tun?
Tom Newton Dunn, früher mal beim Boulevardblatt «Sun», jetzt bei Rupert Murdochs News-Kanal Talk TV, wollte beim Husting vor allem eines wissen: Was wollen Truss und Sunak gegen die steigenden Lebenshaltungskosten tun? Die «cost of living crisis» ist das Thema im Rennen um Johnsons Nachfolge. In Darlington war zunächst Sunak dran und versprach das, was er schon seit Wochen verspricht: Er werde all jenen helfen, die Unterstützung wirklich nötig hätten – und zwar in Form gezielter Hilfen für Bedürftige.
Sofortige Steuersenkungen, wie sie Truss fordert, lehnt Sunak vehement ab. Aus seiner Sicht würde das nur dazu führen, dass die Inflation weitersteigt. Davon will Truss nichts wissen. Sie inszenierte sich in Darlington weiter als diejenige, die den Menschen das zurückgeben will, was ihnen der Staat abknöpft: ihr Geld. Truss will die Steuern für Bürger und Unternehmen sofort senken, um so die Wirtschaft anzukurbeln. Sunak möchte die Steuerlast zwar auch reduzieren, aber erst, wenn das Wachstum wieder da ist.
Es sind zwei unterschiedliche ökonomische Konzepte, die zur Wahl stehen. Und mit ihnen zwei Kandidaten, von denen sich nur schwer sagen lässt, wer am Ende gewinnen wird. Laut Umfragen liegt Truss in der Gunst der Tory-Mitglieder deutlich vorn. Auch die einflussreichen konservativen Zeitungen «Daily Mail» und «Daily Telegraph» haben sich für die Aussenministerin als Johnsons Nachfolgerin ausgesprochen.
Sunak versuchte an der Veranstaltung in Darlington, die schlechten Umfragewerte wegzulächeln. Darauf angesprochen, sagte er nur, dass das Rennen doch erst losgehe. Ansonsten verwahrte er sich noch vor Anschuldigungen, dass er kein «proper Brexiteer» sei, also kein echter Verfechter des britischen EU-Austritts. Sunak wies dezent darauf hin, dass er beim Referendum für den Brexit gestimmt habe – anders als Truss, aber das brauchte er nicht zu erwähnen, schliesslich wissen das in der Konservativen Partei ohnehin alle. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Zwei Hardliner mit radikalen Lösungen».)
Labour-Chef Keir Starmer ist beliebter als Truss und Sunak
Neben dem Brexit, der drohenden Wirtschaftskrise und dem Zustand des Gesundheitssystems ging es auch um den Mann, der die Regierungskrise ausgelöst hat: Boris Johnson. Auf die Frage von Moderator Newton Dunn, ob Johnson selbst für sein Scheitern verantwortlich sei, sagte Sunak ganz klar: Ja. Truss wiederum war da nicht so eindeutig. Als jemand aus dem Zuschauerraum rief, dass «die Medien» für Johnsons Niedergang verantwortlich seien, sagte sie nur, sie wolle dem «exzellenten Publikum» nicht widersprechen.
Während die Tory-Mitglieder also laut Umfragen Truss favorisieren, ist die Meinung in der gesamten britischen Wählerschaft bei weitem nicht so eindeutig. Auf die Frage, wer den besten Premier abgeben würde, antwortete die Mehrheit bei einer Yougov-Umfrage für die «Times» mit «weiss nicht». Davon abgesehen, lagen Sunak und Truss mit je 24 Prozent gleichauf. Und auch sonst gab es in der Umfrage etwas, was beide verbindet: Im direkten Vergleich ist Labour-Chef Keir Starmer jeweils beliebter als Truss und Sunak.
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