Jetzt surrt Harley elektrisch
Trotz Verzögerungen bei der Einführung und einem Produktionsengpass wegen der Corona-Krise rollt die Harley-Davidson LiveWire nun lautlos auf die Schweizer Strassen
Als die Entwickler von Harley-Davidson vor fünf Jahren die ersten Prototypen ihres Elektromotorrades auf Welttournee schickten, war die Fachwelt überrascht. Man erwartete europäische oder japanische Hersteller vorn, aber sicher nicht die Eisenschmiede aus den USA. Allerdings waren die Erstlinge alles andere als ausgereift; manch ein Beobachter tat die Auftritte schon als Marketing-Gag ab. Doch die Traditionsfirma aus Milwaukee blieb dran, im vergangenen Herbst feierte eine deutlich weiterentwickelte Serienversion der LiveWire Premiere. Weitere kleinere technische Schwierigkeiten und die mangelhafte Vorbereitung auf hiesige Ladestrukturen schoben die Markteinführung aber immer weiter nach hinten, nur einige wenige Stromer kamen nach Europa. Bis jetzt. Nun rollt Harley-Davidson auch lautlos. Und wer mit der LiveWire unterwegs ist, der merkt sehr schnell: Das E-Bike erregt auch ohne den typischen Harley-Sound sehr viel Aufsehen.
Wo immer der Muscle-Roadster auftritt, versammeln sich Interessierte um dieses kraftstrotzende Vehikel. Obwohl mit technischen Finessen und Details versehen, die den übrigen Baukasten-Bikes aus Milwaukee komplett abgehen, lässt sich ihre Herkunft mehr als erahnen – die LiveWire ist eindeutig eine Harley, wenngleich eine vollkommen neue Spezies. Statt des typischen mächtigen V2-Motors dominiert ein gewaltiger Akku im Heizkörperformat die Optik, darunter liegt längs der Elektromotor wie ein abschussbereiter Torpedo.
Die LiveWire pulsiert im Stillstand
Diese Einbaulage des «Revelation-Motors» erfordert eine Umlenkung über ein Winkelgetriebe, bevor der Zahnriemen das Hinterrad antreiben kann. Ein schaltbares Getriebe gibt es hier nicht, man gibt einfach Gas respektive Strom. Doch halt, so schnell gehts nun auch wieder nicht: Mit dem Funkschlüssel in der Jackentasche wird der Antrieb über eine Taste scharfgeschaltet, bevor die elektrische Herrlichkeit über einen weiteren Tastendruck freigegeben wird. Umständlich? Ja, aber sinnvoll, denn diese Prozedur verhindert ungewolltes Gasgeben. Auch deshalb pulsiert eine aktivierte LiveWire im Stand und erinnert mit ihrem elektrischen Herzschlag an den gewaltigen Antritt.
Der wiederum lässt sich weitestgehend nach Wunsch einstellen – über vier vorgegebene Fahrmodi und drei Custom-Einstellungen. Diese werden über die zugehörige Smartphone-App konfiguriert. Was sich so nüchtern anhört, münzt die Praxis in ein wahrlich atemberaubendes Spektakel um: Wer im «Sport»-Modus voll durchlädt, sollte freie Bahn haben. Denn das, was kommt, ähnelt dem Ritt auf der Kanonenkugel. Extrem mächtig und gleichförmig schieben 116 Newtonmeter Drehmoment und in der Spitze 106 PS die 249 Kilogramm schwere Harley voran. Das Fehlen von Schaltvorgängen macht vor allem Zwischensprints zur lässigen Fingerübung. Zahlen gefällig? Ein Fachmagazin ermittelte für den Durchzug von 50 auf 120 Stundenkilometer konkurrenzlose 4,1 Sekunden. Selbst im vorsichtigen «Rain»-Modus absolviert die LiveWire diese Übung in 5,2 Sekunden. Zum Vergleich: Eine 165 PS starke BMW S 1000 R benötigt dafür 5,9 Sekunden.
Damit der Fahrer dabei nicht wie ein Fähnchen im Wind flattert, sind der Sattel tief und der Lenker relativ hoch angebracht. Der Oberkörper spannt sich etwas über die lange Tankattrappe, das bringt Gewicht aufs Vorderrad und verhindert ungewolltes Ansteigen. Andererseits ist das Ambiente so bequem, dass auch längere Touren genussvoll möglich sind. Dabei bietet die Harley die Möglichkeit, das Mass der Rekuperation zu bestimmen, also die Energierückgewinnung durch den vom Schub angetriebenen E-Motor, der dann als Generator arbeitet. Im Fahrbetrieb wirkt das wie eine Motorbremse, wahlweise wie ein Zweitaktmotor fast ohne Gegenkraft im Segelbetrieb oder besonders stark, was wiederum die Bremsen schont.
Beides hat seinen Reiz und fördert den Flow, sofern man sich darauf eingelassen hat. Erleichtert wird das durch die hochwertigen Federelemente, die einen sportlichen Fahrkomfort bieten, und ein sehr effektives Kurven-ABS samt Schräglagen-abhängiger Traktionskontrolle. Richtig geräuscharm ist das Vergnügen aber nicht: Der Antrieb surrt so laut, dass viele Verkehrsteilnehmer ihren Kopf zum ungewohnten Geräusch drehen. Wie lange dieser Flow anhält, hat der Fahrer im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand. Ohne sich zurückzuhalten, ermöglicht die 15,5-kWh-Lithium-Ionen-Batterie im normalen Fahrbetrieb sicher die versprochenen 158 Kilometer. Vollgas-Autobahnetappen sind in der Schweiz ja nicht möglich, auf deutschen Autobahnen saugen sie den Akku erheblich schneller leer, die Reichweite ist gerade mal dreistellig.
Zwei Schwachstellen
Gehts ans Laden, zeigt sich die grösste Schwachstelle der LiveWire: An der Haushaltssteckdose daheim fliessen maximal 2,7 kW, es dauert also gut fünf Stunden, bis ein leerer Akku voll geladen ist. Schneller gehts nur mit Gleichstrom an einer CCS-Säule, dort ist die Harley in einer Stunde gefüllt, doch diese Säulen sind in den für Motorradfahrer attraktiven Gebieten rar, ausserdem mag nicht jede Säule mit der Amerikanerin kommunizieren. Eine Tour ohne sichere Ladestellen wird so zum Risiko. Zweiter Knackpunkt ist der Preis: 36’500 Franken will Harley-Davidson für die LiveWire haben – diese Ansage schränkt den Kundenkreis trotz der famosen Fahrleistungen und einer Verarbeitung, nach der sich jede «normale» Harley die Kolben lecken würde, radikal ein. Schade, denn die Kultmarke ist auf Zahlen angewiesen: Während der Zweiradmarkt in der Schweiz in den ersten vier Monaten um knapp 22 Prozent nachgegeben hat, mussten die Amerikaner ein Minus von 34,18 Prozent verbuchen.
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