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Krieg in der Ukraine
Jetzt schaufelt man Massengräber

Ukrainische Rettungskräfte und Freiwillige tragen eine verletzte schwangere Frau aus der Entbindungsklinik in Mariupol.
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Die dritte Woche des Kriegs begann in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol wie fast alle Tage zuvor: mit einem weiteren Toten. Um acht Uhr morgens schlug am Donnerstag wieder eine Bombe ein, mindestens ein Einwohner der umkämpften Stadt am Asowschen Meer starb, so teilt es die Stadtverwaltung mit. Allein bis Mittwoch kamen in der vor Kriegsbeginn 430’000 Einwohner zählenden Stadt «1170 Menschen ums Leben», so sagte Vizebürgermeister Serhi Orlow dieser Zeitung bei einer Videokonferenz mit westlichen Medien.

Selbst eine Geburtsklinik in Mariupol wurde am Mittwoch von einer russischen Rakete getroffen und in Trümmer verwandelt. 17 Menschen – werdende Mütter, Kinder, Ärzte – wurden verletzt. Und die anfängliche Hoffnung, dass niemand ums Leben gekommen sei, zerstob: Am Donnerstag meldete die Stadtverwaltung, bei dem Bombenangriff seien drei Menschen gestorben, darunter eine schwangere Frau. Die Weltgesundheitsorganisation WHO bestätigte, dass mindestens 18 medizinische Einrichtungen bereits von Bomben getroffen wurden.

Über 70 Tote

«Was ist das für ein Land, die Russische Föderation, das Angst vor Spitälern und Wöchnerinnenstationen hat und sie zerstört?», fragte Präsident Wolodimir Selenski in seiner abendlichen Videobotschaft an die Nation am Mittwoch. «Waren diese schwangeren Frauen dabei, (die russische Stadt) Rostow zu bombardieren? War es die Entnazifizierung des Spitals?», fragte Selenski in Anspielung auf die von Russlands Präsident Wladimir Putin verwendete Propagandaformulierung, laut der er mit seiner «Spezialoperation» in der Ukraine gegen «Neofaschisten» kämpfe.

Aufgrund des schweren Beschusses können die Toten nicht begraben werden: In Mariupol werden die Opfer in ein Massengrab gelegt. 

Gemäss Mariupols Vizebürgermeister Orlow begann die Stadt mit dem Ausheben von Massengräbern. Ewgeni Maloletka, Fotoreporter der Associated Press, dokumentierte nicht nur den Bombentreffer auf die Wöchnerinnenstation, sondern auch, dass städtische Arbeiter in einer Feuerpause am Mittwoch auf dem Friedhof Mariupols ein 25 Meter langes Grab aushoben – und das Kreuz über 70 Tote schlugen, die sie in Teppiche oder Säcke eingewickelt hatten und in die Grube hoben.

Auch sonst ist die Lage in Mariupol verzweifelt: Es gibt weder Strom noch Heizung, Telefon oder fliessendes Wasser, weil Russland laut Bürgermeister Wadim Boitschenko alle 15 Stromleitungen zerstört hat, an denen die Versorgung der Infrastruktur hängt. Laut Einwohnern fällen Menschen Bäume und kochen trotz häufigem Beschuss in Innenhöfen, weil ihre gasbetriebenen Herde nutzlos geworden sind.

Ein zentrales Kriegsziel

Mariupol ist aus russischer Sicht ein zentrales Kriegsziel: Nur wenn die Hafenstadt mit ihren Stahlwerken und anderen Fabriken erobert ist, kann Russland östlich der bereits eroberten Krim den ganzen Landstreifen bis Russland kontrollieren. Die Eroberung des nur 50 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernten Mariupol ist zudem zentral, um einen der wichtigsten Standorte der ukrainischen Armee, der Nationalgarde und des Asow-Bataillons auszuschalten – und Moskaus von Westen kommende Truppen mit den gleichfalls von Moskau befehligten Truppen der «Volksrepublik Donezk» zu vereinigen.

Bürgermeister Boitschenko beklagte am Donnerstag, dass die russischen Truppen seit sechs Tagen die Evakuierung der Stadt durch einen Fluchtkorridor ebenso verhinderten wie die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten durch bereitstehende humanitäre Lastwagenkonvois. Am Donnerstag schimmerte kurz Hoffnung auf: Am Morgen machte sich ein Buskonvoi auf den Weg nach Mariupol.

«Mariupol bleibt vollständig blockiert, sowohl für die Flucht der Menschen wie für humanitäre Lieferungen.»

Vizeministerpräsidentin Irina Werschtschuk

Doch die russischen Truppen hatten gemäss der Stadtverwaltung am Mittwoch im Stadtzentrum von Mariupol Wohnhäuser, die Technische Universität und das Theater der Stadt bombardiert – von dort aus sollte sich der Evakuierungskonvoi auf den Weg machen. Auch ausserhalb Mariupols wurde gekämpft – und die Evakuierung ein weiteres Mal abgesagt. «Mariupol bleibt vollständig blockiert, sowohl für die Flucht der Menschen wie für humanitäre Lieferungen», informierte Vizeministerpräsidentin Irina Werschtschuk. «Unser Konvoi mit humanitären Hilfsgütern ist nach Saporischschja zurückgekehrt» – 220 Kilometer von Mariupol entfernt.

200’000 Menschen sollen laut den Stadtvätern aus Mariupol gebracht werden, doch die Stadt soll nicht kapitulieren. Der ukrainische Generalstab bekräftigte am Mittwoch, Mariupols Verteidigung werde fortgesetzt. Je mehr Zivilisten die umkämpfte Stadt verlassen, desto unnachgiebiger dürfte die russische Armee ihre schon in Tschetschenien und Syrien verfolgte Taktik anwenden, eine Stadt vor der Einnahme in Trümmer zu schiessen.

Feuerwehrleute versuchen, ein Feuer zu löschen, nachdem ein Chemielager nahe Kiew durch russischen Beschuss getroffen worden war. 

Die Bilder der zerstörten Geburtsklinik und der fliehenden schwangeren Frauen sind schon jetzt ein Sinnbild des russischen Kriegs in der Ukraine. Es dürfte Hunderte solcher Schauplätze geben, von denen aber meist Bilder, Berichte und die Namen der insgesamt offenbar bereits Tausende Toten fehlen. Im heftig umkämpften Charkiw, zweitgrösste Stadt des Landes, hatte Militärgouverneur Oleg Synegubow am Mittwochmorgen 29 russische Bombenangriffe allein in der vergangenen Nacht gemeldet.

Auch noch nicht von russischen Truppen umzingelte Städte sind nicht sicher vor Tod und Zerstörung. Langsam ergreift der russische Krieg auch den Westen der Ukraine. Im 150 Kilometer westlich von Kiew liegenden Schitomir mit 260’000 Einwohnern etwa trafen gemäss Bürgermeister Serhi Suchomlin russische Bomben neben Wohnhäusern und einem Heizkraftwerk zwei Spitäler, eines eine Kinderklinik. Lokale Medien veröffentlichten Bilder zerstörter Häuser. Laut Polizei kamen allein am Mittwoch sechs Menschen um. Bereits am 2. März wollten die Russen mit einer ferngelenkten Rakete offenbar eine Fallschirmspringerbasis treffen – und trafen ein Wohnhaus. Der 32 Jahre alte Ingenieur Oleg Rubak und seine eineinhalbjährige Tochter überlebten, seine Frau Katja, 29, fand Rubak tot unter Trümmern.