Historische Papyrus-Entdeckung«Antike Fan-Fiction»: Als Jesus ein kleiner Junge war
Zuerst hielten Forschende das Papyrusblatt für eine Einkaufsliste, dann zeigte sich: Es erzählt von der Kindheit von Jesus Christus – und gehört nicht zur Bibel. Was verraten solche Texte über das Christentum?
- Ein bislang kaum beachtetes Papyrusblatt enthält die älteste bekannte Abschrift des Kindheitsevangeliums von Thomas.
- Lajos Berkes entdeckte das Fragment versehentlich in einer Hamburger Sammlung.
- Das Kindheitsevangelium enthält Wundergeschichten aus Jesu Kindheit, die nicht in der Bibel stehen.
Als Jesus fünf Jahre alt war, spielte er an der Furt eines Baches. Aus weichem Lehm formte er zwölf Spatzen. Als sein Vater Josef das sah, herrschte er ihn an: «Weshalb tust du am Sabbat, was man nicht tun darf?» Jesus aber klatschte in die Hände und rief den Lehmvögeln zu: «Fort mit euch!» Da öffneten sie ihre Flügel und flogen mit Geschrei davon.
Von dieser Geschichte haben Sie noch nie gehört? Kein Wunder. In der Bibel sucht man sie vergeblich. Sie stammt aus dem Kindheitsevangelium des Thomas. Dabei handelt es sich um eine sogenannte Apokryphe, also eine christliche Schrift, die es anders als die Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes oder etwa die Briefe des Paulus nicht in den biblischen Kanon geschafft hat. Trotzdem hat das Kindheitsevangelium den Weg in die Gegenwart gefunden, wie andere apokryphe Schriften auch. Neuerdings können Historikerinnen und Historiker sogar einen Blick in den griechischen Originaltext werfen – oder zumindest auf 13 Zeilen davon. Denn der Papyrologe Lajos Berkes von der Humboldt-Universität Berlin hat vor einigen Monaten eine überraschende Entdeckung gemacht.
Er betrachtete ein nur elf mal fünf Zentimeter grosses Papyrusfragment aus einer Hamburger Sammlung. Lange habe man angenommen, dass es sich dabei um einen privaten Brief oder eine Einkaufsliste handle, weil die Handschrift so unbeholfen wirkte, wird Berkes in einer Pressemitteilung seines Instituts zitiert. Doch dann habe er das Wort «Jesus» entdeckt und sich das Fragment näher angesehen. Bald stand fest: Es handelt sich um die älteste bekannte Abschrift des Kindheitsevangeliums. Offenbar als Schreibübung im Ägypten des vierten oder fünften Jahrhunderts entstanden, verhinderte das dortige trockene Klima, dass sich der Papyrus zersetzte.
Berkes war damit auf einen der heute weitgehend vergessenen und von der Amtskirche nicht anerkannten Berichte über Jesus Christus gestossen. Warum wurden diese Schriften nicht Teil der Bibel – und hätten sie das Potenzial, das Christentum zu verändern?
Martin Wallraff ist Theologe und Kirchenhistoriker an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er vermutet, dass der Autor des Kindheitsevangeliums im zweiten Jahrhundert nach Christus lebte und die anderen Evangelien bereits kannte: «Das Lukasevangelium berichtet von seiner Geburt und dann erst wieder vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Der Verfasser hat da gewissermassen eine Marktlücke erkannt, die er mit seinem Text voller Wundergeschichten aus Jesu Kindheit zu füllen versucht.»
Verschiedene Schriften wurden Aposteln zugeschrieben, um sie glaubwürdiger zu machen
Wer dieser Verfasser genau war, ist nicht bekannt. Um den echten Apostel Thomas dürfte es sich bei ihm aber nicht handeln, allein schon aufgrund der Datierung. Zahlreiche Schriften wurden allen möglichen Aposteln zugeschrieben, um sie glaubwürdiger zu machen. Das gelte keineswegs nur für Apokryphen wie das Petrus- oder Judasevangelium, sagt Wallraff: «Noch bis vor nicht allzu langer Zeit glaubte man, die angeblichen Verfasser der biblischen Evangelien, etwa Matthäus oder Johannes, seien Schüler von Jesus gewesen. Aber das wird in keinem der Evangelien behauptet. Keiner der Autoren schreibt, er habe Jesus gekannt.»
Tatsächlich gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass die vier kanonischen Evangelien erst ein bis zwei Generationen nach den Lebenszeiten Jesu entstanden. Die Schätzungen variieren, aber die meisten bewegen sich im Zeitraum zwischen den Jahren 80 und 110 nach Christus, wobei das Johannesevangelium wohl als letztes geschrieben wurde.
«Das Christentum hat sich mit der Zeit zu einer Schriftreligion entwickelt. Aber anders als zum Beispiel beim Islam war ihm das nicht in die Wiege gelegt», sagt Wallraff. Während die Entstehung des Islam ganz auf die Abfassung des Koran konzentriert sei, stünden die christlichen Schriften nicht am Ausgangspunkt dieser Religion. Die ältesten Texte sind auch nicht die Evangelien, die sich mit den Taten Jesu beschäftigen, sondern die Briefe des Paulus an die verschiedenen Gemeinden im Römischen Reich: Korinth, Thessaloniki, Rom. Sie stammen aus den Fünfzigerjahren des ersten Jahrhunderts und haben wie jeder Brief spezifische Anlässe. Sie enthalten konkrete Ratschläge zu Problemen, die damals in den Gemeinden diskutiert wurden.
«Die Menschen wussten nicht, dass sie da gerade eine neue Weltreligion begründen. Das wird erst in unserem Rückblick auf die Geschichte deutlich», betont Wallraff. Sie hatten damals vielmehr das Gefühl, sich einer neuen Spielart des Judentums anzuschliessen, einer Strömung unter vielen in dieser damals sehr diversen Religion. Daher bestand wohl zunächst auch kein grosser Bedarf an neuen Texten. Es gab ja schon die Heilige Schrift des Judentums, und die Menschen konnten darüber diskutieren, wie diese im Lichte der neuen Entwicklungen zu interpretieren war.
Dafür, dass man gegen Ende des ersten Jahrhunderts dann doch begann, das Leben Jesu aufzuschreiben, gibt es in der Forschung zwei Haupterklärungen. Zum einen erwarteten frühe Christen die Wiederkunft Jesu auf Erden eher heute als morgen. Als diese immer länger ausblieb, wurde deutlich, dass man das Wissen über ihn länger bewahren müsse als zuerst angenommen.
Zum anderen erschütterte die Geopolitik die Region im Nahen Osten – schon damals. Und damit auch das Frühchristentum. In Judäa erhoben sich Menschen gegen die römische Besatzung. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Im Jahr 70 nach Christus liess der spätere römische Kaiser Titus den Tempel in Jerusalem zerstören. Reliefs auf dem Titusbogen in Rom zeigen Szenen der Plünderung. «Das war eine Katastrophe für jeden Juden», sagt Wallraff. «Das Herzstück dieser religiösen Tradition war verloren, und man musste sich fragen: ‹Was machen wir jetzt? Was hält uns noch zusammen?› Unterschiedliche Gruppen fanden darauf unterschiedliche Antworten.» Diese Neuorientierung sei der Ausgangspunkt sowohl des rabbinischen Judentums als auch des Christentums als eigenständiger Religion.
«Niemand hätte damals vom ‹Wort Gottes› gesprochen»
Doch mit der Entstehung christlicher Schriften ergab sich ein neues Problem: Welcher Text kann Gültigkeit beanspruchen und welcher nicht? Im Römischen Reich gab es damals ein loses Netzwerk von christlichen Gemeinden und keine zentrale Autorität, die so etwas hätte entscheiden können. Trotzdem bildete sich überraschend schnell ein weitgehend akzeptierter Kanon heraus. Es gibt mehrere Listen aus dem vierten Jahrhundert, in denen zwar verschiedene Wackelkandidaten auftauchen, die bei den wesentlichen Texten aber übereinstimmen, insbesondere bei den vier Evangelien. Als im fünften Jahrhundert erstmals Versuche unternommen wurden, den bis heute gültigen Kanon des Neuen Testaments mit 27 Schriften kirchenrechtlich festzuschreiben, scheint weitgehender Konsens geherrscht zu haben.
Diesen Prozess der Kanonisierung im Detail zu rekonstruieren, ist schwierig, da es kaum Quellen dazu gibt. Wallraff vermutet aber, dass sich die Auswahl recht natürlich ergab: «Es gab keine zwanzig Evangelien, die alle gleich gut waren und von denen dann vier ausgewählt und der Rest weggeworfen wurde.» Die apokryphen Evangelien seien jünger und hätten deutlich weniger literarischen Gehalt als ihre kanonischen Pendants. «Wenn wir uns zum Beispiel das Kindheitsevangelium des Thomas ansehen, würde ich etwas überspitzt eher von antiker Fan-Fiction über Jesus sprechen.»
In der Öffentlichkeit entstehe manchmal der Eindruck, es gäbe die kirchlich bestätigte Wahrheit und daneben eine unterdrückte Tradition, die geheim gehalten werden soll, sagt er. Das stimme nicht.
Die Frage, ob ein Text zum Kanon gehört oder nicht, war aber auch noch nicht so stark religiös aufgeladen. «Niemand hätte damals vom ‹Wort Gottes› gesprochen oder geglaubt, dass den Evangelisten beim Schreiben die Hand geführt wurde», sagt Wallraff. Diese Idee entwickelte sich nur langsam und kam erst mit der Reformation im 16. Jahrhundert wirklich zum Durchbruch, als Protestanten die genauen Worte der Bibel zur einzig massgeblichen Grösse erklärten, um sich von der katholischen Kirche abgrenzen zu können.
Je höher man diese Mauer um die kanonische Heilige Schrift zieht, desto anrüchiger wird die Idee, dass es auch alternative Jesusüberlieferungen gibt. Dabei hätten in den apokryphen Texten aber fast nie belastbare Aussagen zum historischen Jesus gesteckt, meint Wallraff. Ob der als Fünfjähriger also tatsächlich Spatzen aus Lehm zum Leben erweckte, wird auch im Lichte der neuen und möglicher zukünftiger Entdeckungen eine Glaubensfrage bleiben müssen.
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