Israelis im Westjordanland Bauen in Gottes Namen – auf Werbetour mit einem radikalen Siedler
Der israelische Siedlungsbau im Westjordanland nimmt trotz internationaler Kritik zu. Was treibt die Bewegung an, im Schatten des Kriegs weiterzumachen?
Die Tour beginnt mit der Fahrt über eine Grenze, die es, ginge es nach dem Reiseführer, gar nicht geben dürfte: die Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland. Boaz Haetzni sitzt im Auto, er will seine Mitfahrer aufklären über die israelische Siedlerbewegung im Westjordanland, in «Judäa und Samaria», wie er es nennt. Seit mehr als zehn Jahren bietet er im Auftrag des «Regionalrats von Samaria» solche Werbetouren an. Er führt dabei zu Weingütern und Aussichtspunkten, fährt durch Siedlungen, die als radikal gelten, und zeigt biblische Orte wie den Berg Gerizim.
Von dort ist die Stätte zu sehen, die als Grab des biblischen Stammvaters Josef verehrt wird. In der Bibel finden viele Siedler die Legitimation für ihren Siedlungsbau.
Eine Grenze des «Unrechts»
Boaz Haetzni also ist unweit der sogenannten Grünen Linie gestartet, an der das international anerkannte Territorium des jüdischen Staates endet und das seit 1967 von Israel besetzte Westjordanland beginnt. Für die Siedler stellt diese Grenze ein Unrecht dar, Haetzni bezeichnet die Region dahinter nie als Westjordanland. «Die Terminologie dient dazu, unsere Präsenz in unserem Heimatland zu delegitimieren.»
Die Siedlungen nennt er «Gemeinschaften». Auch die israelische Regierung spricht in ihrer offiziellen Kommunikation von «Judäa und Samaria» und unterstreicht damit ihren religiös-historischen Anspruch auf die besetzten palästinensischen Gebiete, mit dem sie ihre Siedlungspolitik rechtfertigt. Nach internationalem Recht gelten israelische Siedlungen hier als völkerrechtswidrig. Israel spricht hingegen von «umstrittenen Gebieten».
«Das ist Qalqilya, eine arabische Stadt», sagt Boaz Haetzni im Auto und zeigt auf ein Häusermeer, das sich kurz hinter der Grenzmauer im Westjordanland erstreckt. «Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Araber am 7. Oktober diese Mauer durchbrochen und die umliegenden israelischen Städte angegriffen hätten.» Mit dem Terroranschlag an jenem Tag ist in Israel die Angst vor einem Mehrfrontenangriff gewachsen. Und diese Angst wird nun von den Siedlern genutzt, um ihre Präsenz im Westjordanland zu rechtfertigen.
Soldaten sollen Sicherheit schaffen
In Zufim, dem ersten Stopp der Tour, sitzen zwei israelische Soldaten auf einer Bank und starren gelangweilt auf ihre Handys. Soldaten findet man in nahezu jeder israelischen Siedlung. Das schaffe Sicherheit, sagt Haetzni. «Unsere Gemeinschaften und Strassen liegen an strategischen Punkten zwischen arabischen Städten und Feldern», das Militär könne hier Informationen sammeln und Terrorangriffe verhindern.
Bis 2005 gab es auch israelische Siedlungen im Gazastreifen, und «wenn wir die noch hätten», sagt Haetzni, hätte es die Anschläge am 7. Oktober erst gar nicht gegeben.
In Rechelim wartet Vered Ben-Sa’adon auf ihrem Weingut, das sie seit 2003 gemeinsam mit ihrem Mann dort betreibt. Zwei zeltartige Hütten mit Welldach zeugen noch von den Anfängen der Siedlung rund um das Gut, heute leben etwa 120 Familien in Rechelim.
Vered Ben-Sa’adon sagt, bis zum 7. Oktober habe sie noch Hoffnung gehabt und den Kontakt zu den arabischen Nachbarn gesucht. Heute aber fürchte sie sich vor ihnen. Was sie von einer Zweistaatenlösung halte? «Seit vier Monaten kämpft mein Sohn in Gaza, hat Kameraden und Freunde verloren. Wenn der Lohn dafür eine Zweistaatenlösung ist, dann verlasse ich das Land.»
Der Beginn des Siedlungsbaus
Zwei Staaten, das kann sich auch Boaz Haetzni nicht vorstellen. Er ist in einer Siedlerfamilie aufgewachsen. Sein verstorbener Vater gilt als einer der Gründerväter der israelischen Siedlerbewegung.
Der Siedlungsbau begann kurz nach der Eroberung des Westjordanlands, Ostjerusalems und des Gazastreifens nach dem Sechstagekrieg 1967. Nach UNO-Angaben lebten im Jahr 2022 etwa 700’000 israelische Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem. Viele wohnen in sogenannten Aussenposten, die auch nach israelischem Recht illegal sind.
Solche Posten gelten oft als Vorboten neuer Siedlungen. Mit einfachen Zelten oder Containern lassen sich die Siedler nieder und beanspruchen das Land für sich.
Immer wieder reissen die israelischen Behörden sie ab. Doch das stört die Siedlerbewegung wenig. «Wir fangen an zu bauen. Wenn sich niemand beschwert, bauen wir weiter. Wenn die Container abgerissen werden, fangen wir wieder von vorn an. Um die Genehmigungen kümmern wir uns später», sagt Haetzni, im Aussenposten Evyatar angekommen. Eine Kooperation mit den Behörden ziehe man jedoch vor.
«Wir mögen Gewalt nicht, aber wir haben Probleme»
Regelmässig kommt es in den Gebieten zu Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern, mit Toten auf beiden Seiten. Nach Angaben des UNO-Nothilfebüros Ocha wurden in den vergangenen 16 Jahren insgesamt 144 Israelis und 1375 Palästinenser im Westjordanland getötet.
Wie man zu extremistischen und gewaltbereiten Siedlern stehe? Sie seien eine Minderheit, so Haetzni. «Wir mögen die Gewalt nicht, aber wir haben Probleme mit den Arabern. Wenn ein Araber einen Juden angreift, kann der sich verteidigen.»
Boaz Haetzni selbst lebt in der Siedlung Kirjat Arba, unweit der Stadt Hebron. Dass die jüdische Bevölkerung im Westjordanland wächst, ist für ihn nur konsequent. «Die Gemeinschaften sollen den jüdisch-israelischen Anspruch auf das gesamte Land zwischen Mittelmeer und Jordan festigen», sagt der Rechtskonservative. Unterstützung erhält die Siedlerbewegung dabei von der rechts-religiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Es sitzen sogar zwei radikale Siedler in der israelischen Regierung, der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, und der Finanzminister, Bezalel Smotrich. Der Koalitionsvertrag hält das «exklusive Recht» der Juden auf «alle Teile des Landes Israel» fest.
Gebiet beanspruchen und vertreiben
Netanyahus rechtskonservative Likud schrieb 1977 in ihr Parteiprogramm, dass es zwischen dem Meer und dem Jordan nur israelische Souveränität geben werde. Eine Losung, die sich auch im Gründungsdokument der Terrororganisation Hamas von 1988 findet, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen. Sie beansprucht das gesamte Gebiet für die Palästinenser – und will die Juden von dort vertreiben.
Die Sonne geht langsam unter, es wird dunkler. Aber der Blick reicht noch weit über hügelige Felder bis zum Jordantal. Boaz Haetzni deutet auf ein einsames Farmgebäude am Horizont. «Dort lebt ein Mann mit sieben Kindern», sagt er stolz. Er bewache und beschütze das Gebiet. Eigentlich, sagt Haetzni, wollten sich hier arabische Beduinen ansiedeln. Doch als die Farm gebaut worden sei, seien alle weggezogen.
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