Wechsel der Religion«Ich bin noch immer Feministin» – Junge Schweizerinnen erzählen, warum sie zum Islam konvertiert sind
Warum werden Schweizerinnen Muslima? Carla (17) und Laura (23) erklären ihre Geschichte, Religionsexperten ordnen ein.

- Immer mehr junge Menschen in der Schweiz konvertieren zum Islam.
- Carla (17) und Laura (23) sind zwei von ihnen. Sie fanden im Islam ein Zuhause und Zusammenhalt.
- Die Religion könne vor allem zu Beginn klare Strukturen und ein Gemeinschaftsgefühl bieten, erklärt Politologin Elham Manea.
- Die Expertin betont, dass junge Menschen, die sich von Religion angezogen fühlen, immer die Quellen ihrer Religiosität hinterfragen sollten.
Nicht mehr Kind. Noch nicht erwachsen. Dazwischen: Ganz viel leerer Raum, den es auszufüllen gilt. Für Carla begann die Suche nach der eigenen Identität, ihrem Platz in der Gesellschaft mit Tarotkarten. Es war die Zeit, als Corona die Welt in die Enge trieb, als die Jugendlichen, die gerade erst das Sprungbrett ins Erwachsenenleben erklommen hatten, plötzlich nicht mehr abspringen durften. «Ich interessierte mich damals für Schamanismus, die Kraft der Steine und so Hexenzeug – es war ein wilder Mix aus allem», erzählt Carla (Name geändert).
Nach der Pandemie hatte sie viel nachzuholen. Es begann ihre «wilde Phase», wie sie es nennt. Partys, Alkohol, Gras, erste sexuelle Erfahrungen. Doch irgendwann wurde ihr alles zu viel. Sie zog sich wieder zurück, von den Freundinnen und auch innerhalb der Familie. Damals war sie sechzehn – und vieles im Umbruch. Sie brach das Gymnasium ab, machte ein Praktikum und merkte, dass sie vor allem Ruhe brauchte. Und Abstand. Dann kam Jamal in ihr Leben. Und mit ihm: Allah.
Junge Menschen suchen in Moscheen nach Zusammenhalt
Carlas Hinwendung zum Islam ist kein Einzelfall. Laut Federico Biasca, Forscher am Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft der Universität Freiburg, klopfen immer mehr junge Menschen, darunter auch Minderjährige, an die Türen von Moscheen. In seiner gross angelegten Studie beschreibt er Bekehrung als ein zutiefst soziales und interaktives Phänomen. «Viele Menschen interessieren sich für den Islam, weil sie muslimische Bekannte in ihrem Umfeld haben. Andere wiederum haben eher intellektuellen Zugang, durch das Lesen von Texten oder Reisen in muslimische Länder.» Laut Schätzungen des Bundes sind von den rund 430’000 Musliminnen und Muslimen in der Schweiz zwischen 9000 und 12’000 Konvertiten, und ihre Zahl dürfte weiter steigen.

Elham Manea, Titularprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, ergänzt, dass viele dieser Konvertitinnen und Konvertiten auf der Suche nach Zusammenhalt, Identität und Zugehörigkeit sind. «Die Abwendung von einer Welt, die keinen Halt gibt, spielt oft eine Rolle. Der Islam bietet klare Strukturen und ein Gemeinschaftsgefühl», erklärt sie. «Besonders für junge Menschen, die sich in einer Phase des Umbruchs befinden, kann die Religion eine Orientierungshilfe sein.»
Kein Kiffen, kein Alkohol, keine Tattoos
Lauras (Name geändert) Weg zum Islam begann mit einer Freundschaft. Sie war 17, als sie Dilara kennen lernte, eine junge Kurdin, damals 15 Jahre alt. Schon bald wurde Laura Teil von Dilaras Familie. Sie sass mit ihnen am Tisch, ass Dolma, die mit Reis gefüllten Weinblätter, und beobachtete, wie die einzelnen Familienmitglieder sich jeweils zum Beten zurückzogen. Immer wieder. Fünfmal am Tag. Doch es war vor allem ihre Faszination für die kurdische Kultur, für das Familiäre, das Laura dazu bewog, ihren ersten Ramadan mitzumachen. Da war sie gerade 18 geworden.
Zu dieser Zeit rauchte Laura noch regelmässig Gras, trank Alkohol, obwohl ihr der nie wirklich geschmeckt hat. Zu Hause hat das niemanden gestört – und irgendwie auch niemanden interessiert; weder ihren Vater, bei dem sie mit ihrem Halbbruder in einer Patchworkfamilie lebte, noch ihre Mutter, bei der sie mehrheitlich ist. «Meine Eltern sind das, was man chillig nennt. Manchmal wünschte ich mir, sie wären strenger gewesen.» Wenn Dilara und Laura zusammen unterwegs waren, rief Dilaras Mutter schon um neun Uhr an und fragte, wo sie stecke. «Das hat sie natürlich genervt, ich hingegen fand es traurig, dass ich nach Hause kommen konnte, wann ich wollte.»
Im Sommer 2021 reiste Laura mit Dilara und deren Familie in den kurdischen Teil des Irak. Obwohl sie kaum verstand, was die Frauen dort in der Küche miteinander besprachen, löste die Heiterkeit und Vertrautheit unter ihnen etwas bei ihr aus. «Es fühlte sich nach Zuhause an», sagt Laura. Bald darauf entdeckte auch sie das Beten. Spürte, wie sehr es sie beruhigte, wie es ihr Halt und Kraft gab. Besonders in Zeiten des Drucks, etwa vor der Abschlussprüfung zur Kauffrau. Doch Konvertieren kam für Laura erst infrage, wenn sie sich «rein» fühlen würde, frei von Sünde. «Ich dachte mir, ich darf mir diese Religion schliesslich aussuchen. Da gehört es sich, halal zu sein.» Also kein Kiffen, keinen Alkohol und keine weiteren Tattoos.
Schutz und Orientierung statt Freiheit
Carla und Laura verbindet vieles. Nicht aber ihre Herkunft. Carla fand zu Hause immer ein offenes Ohr. Ihre Unsicherheiten, die Ratlosigkeit und all die scheinbar sinnlosen Dinge im Leben – sie konnte alles am freigeistigen Familientisch mit ihren Eltern besprechen. Ein modernes, linkes Zuhause, in dem klassische Rollenbilder bewusst hinterfragt werden und der Vater zu gleichen Teilen die Kinderbetreuung übernimmt. Carla lernt früh, dass es gesellschaftlich keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gibt – dass jeder und jede tun kann, was er oder sie möchte. Sie erkennt die Bedeutung von politischem Engagement und wird darin bestärkt, aktiv gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen. «Ich war immer feministisch unterwegs – und bin es auch heute noch», sagt Carla und kann sich auch vorstellen, weiterhin für Gleichberechtigung auf die Strasse zu gehen.

Doch die Freiheit, die Carla zu Hause geniessen konnte, wurde irgendwann von einer anderen Sehnsucht überlagert. «Die Hinwendung zum Islam ist für viele eine Art Selbstschutz», erklärt Politikwissenschaftlerin Elham Manea. «Er bietet Schutz vor einer Welt und einer Gesellschaft, die sie in gewissen Momenten überfordert.» Für Carla und auch für Laura waren es diese Struktur und Verlässlichkeit, die der Islam ihnen bot. Das sei nicht überraschend, sagt Elham Manea, besonders in der ersten Phase vermittle die Religion eine unglaubliche Sicherheit.
Keine Küsse, auch wenns schwerfällt
Carla lernte Jamal an einem Sommerabend über gemeinsame Freunde kennen. «Er strahlte diese Ruhe aus», erinnert sie sich. Jamal ist Somalier, lebt seit seinem achten Lebensjahr in Zürich. Sie trafen sich danach ab und zu. Und sie beobachtete ihn beim Beten, sprach mit ihm darüber und spürte, wie ihm sein Glaube als Anker dient. Seine Konsequenz beeindruckte sie: kein Alkohol, striktes Einhalten des Ramadans, ein klarer Fokus auf seine Lebensziele. Carla und Jamal verliebten sich. Und nun, rund eineinhalb Jahre später, werden sie heiraten – der Termin steht bereits fest, in wenigen Wochen, sobald Carla achtzehn ist. Denn im Islam darf Liebe nur zwischen Verheirateten existieren. Vorher: keine Küsse, keine Körperlichkeiten, kein Sex. Die beiden halten sich daran – «auch wenn es uns manchmal schwerfällt», sagt Carla.
Laura und Yusuf hingegen kannten sich vom Sehen her, sie wuchsen im selben Quartier auf. Der Kontakt entstand schliesslich aber über Instagram. Zu diesem Zeitpunkt war Laura bereits konvertiert. Und obwohl sie ganz auf ihren Glauben und auf ihre Lehrabschlussprüfung fokussieren wollte, verabredete sie sich mit Yusuf auf einen Kaffee. Dass er aus einer muslimischen Familie stammt, machte es ihr einfacher. Denn letztlich war für Laura klar, dass sie sich dereinst einen muslimischen Ehemann an ihrer Seite wünscht. Einen Mann, mit dem sie ihre Werte teilen kann. «Es ist traurig, zu sehen, wie schnell Menschen heute Beziehungen aufgeben und neue Abenteuer suchen – sowohl, wenn ich meine eigene Familie betrachte, als auch die Gesellschaft um mich herum.»

Auch für Laura ist der Verzicht auf Körperlichkeit schwierig. «Manchmal fühle ich mich schuldig, dass wir schon ein Paar sind, obwohl wir noch nicht verheiratet sind. Wenn wir uns zu innig umarmen, an den Händen halten oder küssen.» Laura ist seit eineinhalb Jahren mit Yusuf zusammen, doch noch ist ihre Beziehung «haram» – verboten. Besonders beim Beten lastet dieser Umstand schwer auf ihr und erfüllt sie mit Scham. Deshalb bittet sie Allah jedes Mal um Vergebung: «Verzeih uns bitte, ich liebe ihn und er liebt mich.»
Carla wird die Familie von Jamal erst einmal gesehen haben, wenn sie ihn kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag heiraten wird. Kürzlich sassen alle gemeinsam am Familientisch und tranken Tee. Das war seltsam, weil die sprachliche Verständigung schwierig war – «aber auch schön», meint Carla. Sie und Jamal werden sich vorerst nur standesamtlich das Jawort geben. Denn bevor sie in einer Moschee getraut werden, muss Carla noch ihr Glaubensbekenntnis, die Schahada, vor einem Imam und zwei männlichen Zeugen in der Moschee ablegen.
Eltern sollten in Kontakt bleiben, sagt die Expertin
Laura hat das bereits getan, vor zweieinhalb Jahren sprach sie auf Arabisch: «Ashhadu an la ilaha illa-lah wa ashhadu anna muhammadan rasulu-lah: «Ich bezeuge, es gibt keinen Gott ausser Allah, und Mohammed ist sein Gesandter.» Damals war sie zwanzig und ihrer Sache sehr sicher. Sie hatte schon drei Ramadane hinter sich, ausgiebig im Koran gelesen, mit Dilara und ihrer Mutter diskutiert, sich diverse Dokumentationen angeschaut und Podcasts über den Islam angehört. «Selbst meine Mutter, eine überzeugte Atheistin, spürte, dass mir die Religion guttat. Dass ich fokussierter war und mein Leben in Angriff nahm.»
Auch Carlas Mutter versteht das Bedürfnis ihrer Tochter nach Spiritualität gut – den Wunsch zu beten, ein guter Mensch zu sein und sich mit etwas Göttlichem zu verbinden, da sie selbst eine spirituelle Praxis pflegt. «Aber warum muss es ausgerechnet eine Religion sein?», fragt die Vierzigjährige.
Diese Spannung zwischen persönlicher Spiritualität und institutionalisierter Religion ist laut Elham Manea ein Schlüsselmoment, besonders bei jungen Menschen. Fundamentalismus gedeihe dort, wo Religion als einzige und absolute Wahrheit verstanden werde. «Islam is what you make of it», sagt sie. Die Art und Weise, wie jemand den Glauben lebe, könne sowohl eine Botschaft der Liebe als auch des Hasses sein.
Elham Manea betont, dass junge Menschen, die sich von Religion angezogen fühlen, immer die Quellen ihrer Religiosität hinterfragen sollten. Manea warnt ausserdem, dass sich junge Menschen in solchen Phasen oft von Freundeskreisen oder der Familie isolieren. Daher sei es wichtig, dass die Eltern liebevoll im Kontakt bleiben – ohne Angst oder Wut. Wachsamkeit sei geboten, wenn Scham überhandnehme, etwa beim Musikhören, das als «haram», also verboten empfunden wird. Denn Scham, so Manea, sei der Nährboden für starre Glaubenssysteme.
Kopftuch? Meine Entscheidung
Carla plant, ihre dunklen Locken in Zukunft unter einem Kopftuch zu verbergen. Sobald sie ihre Ausbildung zur medizinischen Praxisassistentin abgeschlossen hat – denn an ihrem Arbeitsplatz ist das Tragen eines Kopftuchs nicht erlaubt –, wird der Tag kommen. In ihrem Zimmer trägt sie den Hijab bereits regelmässig. Es fühle sich schön an, sagt sie, richtig und vollständig, als würde sie eine neue Seite ihrer Identität ausmachen.
Der freie Wille endet weder für Carla noch für Laura bei der Frage, was eine Frau tragen möchte. Früher wurde Laura oft auf ihren Körper reduziert. Sie zeigte ihre Rundungen, trug körperbetonte Kleidung. «Ich sagte mir, hey, die Männer müssen sich beherrschen können, ich zeige mich, wie ich will! Doch ich merkte, dass ich mich damit trotzdem unwohl fühlte.» Ob sie dereinst ein Kopftuch tragen möchte, lässt sie noch offen. Für die 23-Jährige soll dies endgültig sein. «Wenn ich mich dafür entscheide, dann muss es gelten – ganz oder gar nicht!»
Viel Liebe. Für und mit Allah
Seit ihrer Konversion empfindet Laura vor allem Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Zugehörigkeit, die sie gefunden hat. «Mein Vater ist mir fremd geworden, wir haben kaum noch Kontakt. Doch nun bin ich Teil einer grösseren, einer religiösen Familie geworden.»
Diese starke Verbundenheit, die junge Menschen wie Laura im Islam finden, ist kein Zufall. Forscher Federico Biasca betont, dass muslimische Gemeinschaften in der Schweiz darauf achten, Konvertitinnen und Konvertiten die wesentlichen Grundzüge des Islams nahe zu bringen, insbesondere durch den Kontakt mit Imamen und sogenannten Konversionsagenten. Bei sehr jungen Menschen, die noch bei ihren Eltern leben, kann der Wunsch, zu konvertieren, jedoch erhebliche Spannungen auslösen. «Es ist daher wichtig, dass muslimische Vereinigungen die Eltern in diesen Prozess einbeziehen», erklärt Biasca. Der Forscher weist darauf hin, dass dies bisher nicht systematisch geschieht, obwohl die Zustimmung der Eltern für minderjährige Konvertiten notwendig ist.
Auf die Frage nach den bedeutenden Erkenntnissen, die Carla aus dem Islam gewonnen hat, erklärt sie: «Masir ist so etwas wie die göttliche Vorsehung. Alles im Leben – unsere Existenz, Umstände und das Schicksal – ist von Gott vorbestimmt.» Für Laura verkörpert dies vor allem den Zusammenhalt und das Bewusstsein, dass jeder seinen eigenen, vorbestimmten Weg geht. Diese Einsicht schenke ihr Gelassenheit und inneren Frieden. «Ich fühle viel Liebe – für und mit Allah – und möchte diese Werte auch an meine eigenen Kinder weitergeben.»
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