Interview über Medikamente Warum melden Ärzte Nebenwirkungen kaum an Swissmedic?
Das Heilmittelinstitut erfährt bei Arzneien nur von jeder 20. Nebenwirkung, die eine Spitaleinweisung notwendig machte. Studienautor Patrick Beeler zu den Gründen.

Herr Beeler, in Ihrer Studie stellen Sie fest, dass es in der Schweiz jedes Jahr zu 32’000 Hospitalisierungen wegen Nebenwirkungen von Medikamenten kommt. Muss uns das beunruhigen?
Die Zahl erscheint hoch, aber nur auf den ersten Blick. Medikamentennebenwirkungen machen 2,3 Prozent aller Hospitalisierungen aus. Das liegt im Bereich, den wir erwartet haben. Angesichts der vielen Medikamente, die jeden Tag eingenommen werden, ist das sicher nicht beunruhigend.
Sie kommen auch auf rund 700 Todesfälle pro Jahr. Ist das ebenfalls im erwarteten Rahmen?
Dazu gibt es bis jetzt keine vergleichbaren Zahlen, auch nicht aus anderen Ländern. Man muss diesen Wert aber mit Vorsicht interpretieren. Bei den 32’000 Patientinnen und Patienten, die wegen Medikamentennebenwirkungen hospitalisiert wurden, kam es zwar zu 700 Todesfällen. Es sind aber nicht alle an den Nebenwirkungen gestorben. Häufig waren die Hospitalisierten in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. In unseren Daten konnten wir das nicht unterscheiden.
Auffällig ist, dass Ärztinnen und Ärzte Nebenwirkungen kaum an Swissmedic melden: gerade mal 5 Prozent der Hospitalisationen und 12 Prozent der Todesfälle. Ist das nicht viel zu tief?
Auch hier stehen wir im internationalen Vergleich gut da. In anderen Ländern liegt die Melderate von Spitaleinweisungen bei 0,6 bis knapp 5 Prozent.
«Die Meldepflicht gilt für schwerwiegende sowie bislang unbekannte unerwünschte Arzneimittelwirkungen.»
Doch eigentlich besteht eine Meldepflicht. Wann gilt die genau?
Sie gilt für schwerwiegende sowie bislang unbekannte unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Medizinische Fachpersonen müssten diese eigentlich melden. Neben lebensbedrohlichen Nebenwirkungen und solchen, die eine Spitaleinweisung nötig machen, gehören auch solche, die schwere oder bleibende Schäden verursachen oder sonst als medizinisch wichtig beurteilt werden, dazu.
Das bedeutet, es müssten eigentlich 100 Prozent aller Hospitalisationen gemeldet werden. Wieso geschieht das nicht?
Dazu gibt es aus Deutschland eine Untersuchung, bei der Ärztinnen und Ärzte zu den Gründen befragt wurden. Diese gaben unter anderem an, nichts von einer Meldepflicht zu wissen. Genannt wurden auch der hohe Aufwand einer Meldung, Datenschutzbedenken oder Angst vor juristischen Folgen. Manche bemängelten zudem fehlende Anreize. Ich denke, die Resultate sind auf die Schweiz übertragbar.
Wo sehen Sie den wichtigsten Ansatzpunkt für eine Verbesserung?
Grundsätzlich wäre es tatsächlich wichtig, dass das Gesundheitspersonal über die Meldepflicht Bescheid weiss und dass dies im Rahmen von Aus- und Fortbildungen vermittelt wird. Dabei müsste auch ein Thema sein, bei welchen Bevölkerungsgruppen eine Meldung besonders sinnvoll ist. Das sind Personen, die in aller Regel in den Zulassungsstudien nicht gut repräsentiert sind. Also zum Beispiel Säuglinge, Frauen im gebärfähigen Alter oder auch betagte Menschen.
Ist es nicht etwas unplausibel, dass man im Medizinstudium nichts von einer Meldepflicht bei Nebenwirkungen mitbekommt?
Ich kann mich nicht erinnern, dass dies während meines Studiums jemals thematisiert wurde.
Eine Hospitalisierung ist offensichtlich eine schwere unerwünschte Wirkung. Viele gravierende Nebenwirkungen erfordern keine Spitaleinweisung. Sind da die Melderaten noch schlechter?
Es stimmt, dass nicht alle schwerwiegenden Nebenwirkungen eine Hospitalisierung benötigen. Wie bei diesen die Melderaten sind, wissen wir nicht. Sie müssen aber nicht unbedingt tiefer sein als bei den Hospitalisierungen.
Die Überwachung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen hat auch viel mit Vertrauen zu tun. Das hat sich bei den Covid-Impfstoffen gezeigt. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass Nebenwirkungen nicht zuverlässig erfasst werden, lassen sie sich nicht impfen. Genügt es, wenn nur jede 20. Hospitalisation gemeldet wird?
Das System funktioniert gut. Es werden auch seltene Nebenwirkungen entdeckt, die man bislang nicht kannte. Das hat sich auch während der Pandemie gezeigt. Natürlich wäre es besser, wenn mehr gemeldet würde. Aber letztlich gibt es auch keine Alternative zum Meldesystem, wie wir es kennen.
Swissmedic hat schon Kampagnen gemacht, um die Meldedisziplin zu verbessern. Das Heilmittelinstitut hätte aber auch die Kompetenz, Bussen auszusprechen.
In der Regel weiss Swissmedic nicht, wenn jemand keine Meldung macht, und kann das auch kaum herausfinden, weil Nebenwirkungen nicht systematisch erfasst werden, wenn ein Medikament mal auf dem Markt ist.
«Das Meldeportal ist eine gute Sache und funktioniert problemlos.»
Es gibt immer wieder Berichte über Ärzte, die sich weigern, eine Nebenwirkung zu melden. Swissmedic könnte in solchen offensichtlichen Fällen ein Exempel statuieren, wenn es ihr ernst wäre.
Ich weiss nicht, ob das der richtige Weg ist. Das war jedenfalls nicht Gegenstand unserer Studie.
Oft hört man von ärztlicher Seite, dass eine Nebenwirkungsmeldung zu kompliziert sei. Würde es nicht helfen, das zu vereinfachen?
Ich finde nicht, dass das kompliziert ist. Man muss vier Punkte eingeben: Wer meldet, wer ist betroffen, um welches Medikament geht es, und was sind die Nebenwirkungen? Das geht sehr schnell.
Während der Pandemie lancierte Swissmedic ein neues Meldeportal. Die Registrierung sei sehr aufwendig, hiess es vonseiten der Ärzteschaft.
Auch da muss ich widersprechen. Das Portal ist eine gute Sache und funktioniert problemlos.
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