Doron Rabinovici im Interview«Der Krieg in Gaza ist schrecklich, aber kein Genozid»
Israel stecke in einer existenziellen Krise – und mit ihm auch die Diaspora, sagt der jüdisch-österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici.
- Der jüdische Autor Doron Rabinovici betont, dass die Hamas mit den Massakern vom 7. Oktober Bilder der Schoah evozieren wollte.
- Er sieht den Angriff auf Israel auch als Teil eines weltweiten Kampfs gegen die Demokratie und die internationale Friedensordnung.
- Bei den bevorstehenden österreichischen Wahlen bereitet ihm die ÖVP Sorgen, die eine Koalition mit der rechtsextremen FPÖ nicht ausschliesse.
Als der Wiener Schriftsteller Doron Rabinovici jüngst die Schweizer Erstaufführung seiner Szenen unter dem Titel «Der siebte Oktober» begleitete, standen vor dem Berner Theater an der Effingerstrasse zwei Polizisten. Denn man befürchtete Aktionen von propalästinensischen Manifestierenden. «Man darf ja wohl noch ein Theaterstück anschauen», sagt Rabinovici. Das jüdische Opfer passe nicht ins Bild gewisser Gruppierungen.
Herr Rabinovici, bald ist es ein Jahr her seit den Massakern der Hamas. Was bedeutet der 7. Oktober für Sie?
Die Massaker haben mich nicht erstaunt, aber überrascht.
Wie meinen Sie das?
Ich wusste, die Hamas ist eine mörderische Terrormiliz. Ich bin auch nicht der Einzige, der das Konzept von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kritisierte, die Hamas zu fördern, um die palästinensische Administration zu schwächen. Dennoch versetzten die Massaker mir, wie den meisten, einen Schock.
Sie sagten kürzlich, der Hamas sei es darum gegangen, Bilder der Schoah zu evozieren. Wie kommen Sie darauf?
Der 7. Oktober war ein genozidales Verbrechen. Dies beweist der Umstand, dass an allen Tatorten rund um Gaza nach demselben Drehbuch vorgegangen wurde: die Folterungen, die sexualisierte Gewalt, die Morde. Die Hamas will Israel vernichten. Es war kein eruptives Aufbegehren eines Mobs wie bei einem Pogrom. Der 7. Oktober hatte zwei Adressaten: die Juden und die Jihadisten weltweit.
«Wenn man Menschen in Moskau, Wien oder Teheran die Knochen bricht, schreien sie in allen Sprachen gleich laut.»
Ist das, was nach dem 7. Oktober in Gaza geschah, nicht auch ein Genozid?
Der Vorwurf des Genozids gegenüber Israel ist viel älter als dieser Krieg. Das Hauptmerkmal eines Genozids ist die Absicht, ein Volk zu vernichten. Die Bombardierung von Dresden im Februar 1945 war ein furchtbares Kriegsverbrechen, aber kein Genozid. Der Krieg in Gaza ist schrecklich. Aber er ist kein Genozid. Der Vorwurf wird nicht ohne Absicht erhoben. Er hat zur Folge, dass die Erinnerung an die Schoah relativiert wird. Der Vorwurf des Genozids lässt so manchen denken: «Die Juden sind auch nicht besser als die Nazis.»
Es gibt Bilder von Soldaten in Gaza, die Gräueltaten begehen. Und es gibt israelische Minister, die sagen, Israel müsse Gaza wieder mit eigenen Leuten besiedeln.
Was ich sage, soll keine Legitimierung der Politik der faschistischen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich sein. Die Vertreibungen von Palästinensern durch extremistische Siedler im Westjordanland sind unerträglich. Ich denke aber, dass es nach dem 7. Oktober nicht möglich war, sich nicht zu wehren. Wenn ich den Kriegsgrund rechtfertige, verteidige ich nicht das Vorgehen.
Der einstige Knesset-Sprecher Avraham Burg hat gesagt, Israel hätte nach dem 7. Oktober eine internationale Intervention und die Entwaffnung der Hamas fordern sollen.
Ich schätze Avraham Burg sehr. Es ist bewundernswert, wie er gegen Vertreibungen im Westjordanland kämpft und sich auch physisch rechtsextremen Siedlern entgegenstellt. Aber sein Vorschlag ist absurd.
Der Gedanke ist aber verblüffend.
Theoretisch mag der Gedanke interessant sein, aber die Hoffnung auf die internationale Gemeinschaft entspricht der jüdischen Erfahrung nicht. Eine Regierung ist kein Philosophieseminar, sondern muss nach solch einem Massaker sicherstellen, dass es nie mehr stattfinden kann. Viele in Europa tun so, als wäre es eine Kleinigkeit, regelmässigen Raketenbeschuss aus Gaza, aus dem Libanon und aus dem Iran abzuwehren. Sie tun so, als wäre die Hamas, wie Judith Butler meinte, «eine soziale Bewegung» und «Teil der globalen Linken».
Sie haben an der Kriegsführung in Gaza nichts auszusetzen?
Wenn ich Kritik übe an der Haltung vieler in Europa, heisst das nicht, dass ich an der Kriegsführung in Gaza nicht auch Kritik üben kann. Ich bin kein General, aber die israelische Regierung formulierte von Anfang an kein politisches Kriegsziel, und es liegt nicht in Netanyahus Interesse, gemässigte Kräfte auf der Seite der arabischen Staaten und der Palästinenser einzubinden, weil sein Kabinett darob zerfallen würde.
Netanyahu braucht den Krieg auch, um an der Macht zu bleiben. Sonst drohen ihm Prozesse.
Das ist leider so. Bis im Januar oder Februar dieses Jahres hatte der Krieg militärisch viel erreicht. Ohne den Einmarsch in Gaza hätte es in zwei, drei Jahren eine Hamas gegeben, die so stark geworden wäre wie die Hizbollah. Um gegen die Hamas nicht nur zu siegen, sondern auch politisch gegen sie zu gewinnen, bräuchte es eine Vision für beide Seiten, aber dazu ist diese Koalition gar nicht imstande.
Eine der Überlebenden in Ihrem Lesedrama sagt: «Man darf das Böse nicht mit dem Bösen bekämpfen.» Was würde das bedeuten?
Es bedeutet, dass es eine Zukunft für die eigenen Kinder und die Kinder in Gaza geben muss. Und dass diese Person davon ausgeht, dass es auf der anderen Seite auch Mütter und andere Leute gibt, die es anders sehen als die Hamas. Die am 7. Oktober nicht auf die Strasse gingen, um das Massaker zu feiern. Aber ich möchte auch darüber reden, was mit den Juden in Europa passiert. Denn wenn im Nahen Osten geschossen wird, werden Juden in London, Paris und Berlin getroffen.
Das müssen Sie erklären.
Israel steckt in einer existenziellen Krise – und damit auch die Diaspora. Israel ist seit dem 7. Oktober jüdischer denn je, weil es auf die jüdische Leidenserfahrung zurückgeworfen wurde. Und die Diaspora ist israelischer denn je, ob sie es will oder nicht. Denn sogar die jüdischen Antizionisten sind betroffen vom Hass und von der Hetze, die ihnen entgegenschlagen. Wenn islamistische Demonstrierende gemeinsam mit Neonazis, antiimperialistischen Linken und Queers for Palestine «Israel raus aus Gaza» rufen, endet es oft in blankem Antisemitismus vor einer Synagoge.
Der israelische Soziologe Nathan Sznaider sagt, Israel könne nicht nach den Standards westlicher Demokratien beurteilt werden. Wonach denn sonst?
Ich habe keine anderen. Der Imam von Sarajewo sagte einmal in einer Debatte, dass Menschen Wurzeln hätten und dass Religion wichtig sei. Und dass die Aufklärung etwas Christliches sei. Ich widersprach ihm heftig und entgegnete: Menschen haben keine Wurzeln, Menschen haben Beine. Wir können von einem Ort zum anderen gehen und Standpunkte einnehmen. Israel hatte immer auch eine transzendente Dimension, die Nathan Sznaider wohl ansprechen wollte. Aber das bedeutet nicht, dass die Leute nicht wissen, dass sie Essen für ihre Familie auf den Tisch stellen müssen.
Sie spielen auf Grundrechte wie das Recht auf Nahrung oder Wohnen an?
Vor mehr als zehn Jahren war ich mit einem russischen Kollegen auf einer Lesung in Moskau. Er sagte, er sei dagegen, dass die europäische Demokratie Russland übergestülpt werde. Russland brauche eine eigene Demokratie. Ich entgegnete, ich hätte keine Ahnung, was eine europäische oder russische Demokratie sei. Aber wenn man den Leuten in Moskau, Wien oder Teheran die Knochen breche, schrien sie in allen Sprachen gleich laut. Die Eltern wollen ihre Kinder in die Schule schicken. Und sie möchten, dass sie möglichst unversehrt wieder zurückkommen. Darum geht es. Ich habe Respekt davor, wenn Menschen an das Ewige glauben. Aber ich glaube an das Vergängliche. Das genügt mir ganz und gar.
«Ich sehe einen weltweiten Kampf gegen die Demokratie und eine Krise der Friedensordnung.»
Das Problem ist, dass Menschen, die an Ewiges glauben, oft fanatisch dafür kämpfen.
Auch die, die an das Vergängliche glauben, können sehr fanatisch kämpfen. Niemand ist davor gefeit, ein sehr netter oder ein äusserst fanatischer Mensch zu werden. Aber es gibt keinen Kompromiss über «Heiliges» wie den Tempelberg in Jerusalem. Trotzdem muss man irgendwie leben. Und die Geistlichen vor Ort kriegten es auch meist irgendwie hin. Aber ich möchte nochmals auf den Auftritt in Moskau zurückkommen.
Bitte.
Es gibt Parallelen zwischen dem Habitus des Tyrannen in Moskau, der dem Rest der Welt den Krieg erklärt, nur weil die Leute sich ihm nicht unterwerfen wollen, und den Geschehnissen in Israel. Ich sehe einen weltweiten Kampf gegen die Demokratie und eine Krise der Friedensordnung. Es gibt auch eine Verbindung zwischen dem Terror der Islamisten und der Strategie der rechtsextremen Populisten. Beide profitieren von einer Öffentlichkeit, in der gilt: Indem wir zusehen, was geschieht, sehen wir zu, dass es geschieht.
Der Rechtspopulist Herbert Kickl in Österreich liegt in den Umfragen vorn und macht den Leuten Angst vor der Migration. Haben Sie Angst?
Angst nicht, aber ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie. Kickl hetzt nach autoritärem Vorbild gegen kritische Medien, die unabhängige Justiz und das Parlament. Die Frage ist, wie man als Demokrat damit umgeht, ohne den Extremismus weiter zu befördern.
Man hat Ihnen vorgeworfen, den Teufel an die Wand zu malen und ihn dadurch erst zu ermöglichen.
Wie kann man die Rechtsextremen beschreiben, ohne sie allzu schaurig schillern zu lassen und sie damit für manche auch noch zu bewerben? Von dieser Frage handelt mein Roman «Die Einstellung». Ich warne jetzt aber eher vor der ÖVP, weil die konservative Partei eine Koalition mit der FPÖ nicht ausschliesst. In Wahlumfragen hätte eine FPÖ-ÖVP-Koalition nun knapp über 50 Prozent.
«Wenn die Mittelschicht Angst hat, sozial abzusinken, wählt sie rechts.»
Müsste man nicht zu verstehen versuchen, warum die Leute rechts wählen?
Doch, man muss auf das Grundproblem in unserer Gesellschaft eingehen. Das ist aber nicht die Asylsituation. Warum wählen sonst die Leute auch in Polen oder Ungarn rechts, wo es dort doch kaum Migranten und Muslime gibt?
Was ist denn das Grundproblem der Gesellschaft?
Die Leute sehen, dass es ihre Kinder einmal nicht mehr so fein haben werden wie sie selbst. Wenn die Mittelschicht Angst hat, sozial abzusinken und ihre Privilegien gegenüber Schwächeren zu verlieren, wählt sie rechts. Wir erleben den Niedergang des nationalen Sozialstaats durch die Globalisierung. Es wird dauern, bis sich neue Formen sozialer Absicherung etablieren. Meine Aufgabe ist vor allem, zu schreiben, wie uns dabei geschieht.
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