Interview mit Avraham Burg«Israel hat in diesem Krieg seine Unabhängigkeit verloren»
Israel müsse sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, sagt Ex-Knesset-Sprecher Avraham Burg. Und in Gaza sollen arabische Staaten die Verantwortung übernehmen.
Herr Burg, Israel steckt im Gazakrieg in einer Sackgasse. Wie kommt es da wieder raus?
Israel steckt aus zwei Gründen in einer Sackgasse: wegen der totalen Negierung des palästinensischen Konflikts. Und wegen der Priorisierung einer militärischen Lösung gegenüber allen anderen Lösungen. Der Ausweg führt über Diplomatie statt Militär und über Anerkennung statt Negierung des Konflikts mit Palästina.
Der Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs hat Haftbefehle gegen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, den israelischen Verteidigungsminister und die Hamas-Führer beantragt. Was löst das in Israel aus?
Emotional ruft dies tiefe und dunkle Gefühle hervor im Sinne von «Die ganze Welt ist gegen uns». Rational und moralisch ist der Antrag gerechtfertigt. Nichts, was Israel den Palästinensern angetan hatte, rechtfertigte den 7. Oktober. Und nichts, was Israel seither den Palästinensern angetan hat, schafft Gerechtigkeit für den 7. Oktober. Eine Untersuchung wäre also von entscheidender Bedeutung, zumal das israelische System der Selbstkontrolle nicht funktioniert.
«Die Regierung Netanyahu wird ihre Kriegsziele nie erreichen.»
Welche anderen Möglichkeiten als Krieg hätte es denn nach den Massakern vom 7. Oktober gegeben?
Am 7. Oktober mussten wir Israelis zum ersten Mal seit der Staatsgründung feststellen, dass kein Staat da war, der uns beschützte. Rache ist ein schlechter Ratgeber. Am 8. Oktober hätte Israel die Rückgabe aller Geiseln, die Entwaffnung der Hamas und die Anklage der Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof fordern sollen. Und es hätte die internationale Gemeinschaft und namentlich die arabischen Staaten dazu auffordern sollen, die Verantwortung in Gaza zu übernehmen – verbunden mit der Bedingung, dass Israel es selber tun würde, falls niemand dazu bereit wäre. Es ist das, was demnächst ohnehin passieren wird – aber ohne die zig Tausend Toten, die der Krieg gefordert hat.
Wie soll der Krieg beendet werden?
Israel hat zwei Regierungen: die offiziell gewählte Regierung, die so viel Schaden wie möglich verursacht, um eine friedliche Zukunft von Israelis und Palästinensern zu verhindern. Und die zweite Regierung in Washington, die alles tut, damit dies nicht gelingt. Israel hat in diesem Krieg seine Unabhängigkeit verloren. Die Regierung Netanyahu wird ihre Kriegsziele nie erreichen. Die Hamas wird noch lange weiterexistieren. Selbst wenn die Führer morgen umgebracht werden, wird es andere geben.
Die Abraham-Verträge zwischen Israel und den arabischen Staaten brachten vor dem Massaker eine gewisse Beruhigung. Was bedeutet es, dass sie nun auf Eis gelegt sind?
Die Abraham-Abkommen waren der Versuch eines Paradigmenwechsels. Ein Abkommen mit peripheren Widersachern sollte das eigentliche Problem überdecken. Zwei Jahre lang hat das ja auch geklappt. Die israelische Regierung wurde vor dem 7. Oktober so selbstsicher, dass sie die Kolonialisierung der Westbank vorantreiben konnte und mit der Justizreform die Ordnung in Israel selber umkehren wollte. Dies hat zu Massenprotesten geführt. Vor dem 7. Oktober waren die israelische Politik und Gesellschaft derart gespalten und geschwächt, dass die Hamas das leicht ausnutzen konnte.
Im Jahr 2003 schrieben Sie, Israel müsse sich entscheiden zwischen rassistischer Unterdrückung und Demokratie. Hat es sich entschieden?
Es hat sich für Ersteres entschieden. Ich kann das anhand einer Falafel erläutern. Die meisten israelischen Juden wollen drei Falafel-Bälle in ihrer Pita. Grossisrael, Demokratie mit allen individuellen Freiheiten und eine jüdische Mehrheit. Das passt nicht zusammen. Wer Demokratie will, kann nicht Grossisrael haben. Wer Grossisrael will, kann darin keine Demokratie und keine jüdische Mehrheit haben, weil die Bevölkerungsanteile gleich gross sind.
«Ein Staat kann nicht jüdisch sein. Er kann vielen Juden eine Heimat sein.»
Sie kritisieren das Konzept des jüdischen Staates?
Der jüdische Staat ist ein Oxymoron, das nicht gelebt werden kann. Israel muss einen der Falafel-Bälle aufgeben: Grossisrael, jüdische Mehrheit oder Demokratie. Die Regierung Netanyahu war bereit, die demokratische Falafel zu opfern. In Jerusalem sah ich ein Taxi mit einem Kleber: «Dieses Taxi hält Schabbat.» Wie kann ein Taxi Schabbat halten? Wie kann ein Staat jüdisch sein? Ein Staat kann nicht jüdisch sein. Er kann vielen Juden eine Heimat sein. Aber wenn der Staat behauptet, jüdisch zu sein, behauptet er eine ähnliche eschatologische Essenz wie die Islamische Republik Iran.
Sie waren einst Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation. Wie passt das zusammen?
Ich war Vorsitzender der Organisation am Ende des Kalten Kriegs. Es war die letzte Welle der Immigration jüdischer Menschen aus dem Gebiet der kollabierenden Sowjetunion. Ich wollte diesen Menschen bei der Ankunft in Israel helfen. Ich habe mich seit meinem Eintritt in die Politik Anfang der Achtzigerjahre nicht grundlegend gewandelt. Mir waren stets zwei Grundsätze wichtig: die Besatzung zu beenden. Und die Trennung von Kirche und Staat zu vollziehen.
Wie hätte sich Israel geändert, wenn Sie tatsächlich Vorsitzender der Arbeitspartei und damit möglicher Nachfolger von Ehud Barak als Ministerpräsident geworden wären?
Übertreiben Sie mal nicht. Israel hat drei Gelegenheiten verpasst, den Weg des Kriegs zu verlassen. Die erste Gelegenheit war der Frieden mit Ägypten. Die zweite Gelegenheit waren die Osloer Verträge. Die letzte Gelegenheit war die Ermordung Yitzhak Rabins.
Es war aber die PLO, welche die Verträge von Oslo nicht ratifizierte.
Es gab so viele tragische Ereignisse, die beim Scheitern der Osloer Verträge eine Rolle gespielt haben. Der Punkt ist: Wir haben unseren Diskurs von Konflikt und Krieg nicht verändert. Wir waren unfähig, in einer anderen Sprache als der Sprache der Gewalt zu reden.
Netanyahu wurde 1996 erstmals Premier. Steckt er hinter diesen verpassten Chancen?
Ich lehne es ab, Israel in ein Pro- und ein Kontra-Bibi-Lager aufzuteilen. Denn das bedeutet, dass er auch das Lager der Gegner definiert. Ich möchte mich aber nicht durch ihn definieren lassen. Vor zwei Jahren gründete ich eine Partei, welche die Politik nicht nach Ethnien gruppieren will, sondern unter dem Aspekt der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger.
Der Philosoph Omri Boehm wurde jüngst in Wien als Antisemit niedergeschrien, als er diese Idee in einer Rede vorstellte.
Das ist leider der Alltag für Menschen wie ihn und mich. Ich habe eine Kolumne auf einem Nachrichtenportal in Israel. Für jede Kolumne kriege ich 800 bis 2000 Reaktionen. Zehn Prozent davon sind Todeswünsche.
Die Uni-Besetzer in den USA und Europa beklagen, dass jede Kritik an Israel mit dem Verdikt «antisemitisch» verunmöglicht werde.
Die meisten der Protestierenden haben keine Ahnung, was sie skandieren, wenn sie «Vom Fluss bis zum Meer» rufen. Ein anderer Teil wirft Israel Siedlerkolonialismus vor. Das kann man diskutieren. Voraussetzung dafür ist aber eine Anerkennung des Existenzrechts Israels. Niemand, der die Restitution kolonialer Güter für Kongo-Kinshasa verlangt, negiert die Existenz Belgiens.
Ist Israel denn ein Kolonialstaat?
Israel wurde gegründet, um das Land zu kolonialisieren.
«Begeht Israel Genozid? Nein. Aber es sollte gestoppt werden.»
Die Grenze zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus ist fliessend. Wörter wie «Genozid» werden dabei zu Waffen. Wie soll man damit umgehen?
Um die rechtlichen Fragen kümmert sich der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Festzustellen ist: Die Rhetorik und die Philosophie gewisser Minister in der israelischen Regierung ist genozidal. Wenn der Premierminister von einem «absoluten Sieg» in Gaza spricht, was meint er damit genau? Der Staatspräsident sagt, es gebe keine unschuldigen Menschen in Gaza. Die radikalen Minister sprechen von der Auslöschung von Dörfern oder vom Abwurf einer Atombombe über Gaza. Das ist die Rhetorik des Genozids.
Was ist mit der Praxis der israelischen Kriegsführung?
Sie ist verabscheuungswürdig, aber sie entspricht nicht der Rhetorik. Ich kann die Legitimität und die Legalität des Tötens von zig unschuldigen Zivilisten nicht akzeptieren – für welches Ziel auch immer. Begeht Israel Genozid? Nein. Aber es sollte gestoppt werden.
Was könnte Gerechtigkeit herstellen?
Am Ende des Ersten Weltkriegs hatte die Welt entschieden, Deutschland zu demütigen. Dies führte zum wirtschaftlichen Kollaps, zur Radikalisierung und zum Zweiten Weltkrieg. Was ist besser für Gaza? Sollte man es demütigen oder wiederaufbauen, wie dies mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war? Ich bin für die zweite Variante: die Führer verurteilen, mit den Menschen zusammenarbeiten. Heute produzieren wir bloss eine weitere Generation des Hasses.
Es gibt Leute, die sagen, aus Gaza hätte nach dem Abzug der Israelis 2005 ein zweites Monaco werden können.
Das ist Bullshit. Als 8000 israelische Siedler im Gazastreifen lebten, wurden 40 Prozent des Wassers und 25 Prozent des Landes der zwei Millionen Palästinenser konfisziert. Nach dem Rückzug wurde jeder Pack Teigwaren und jeder Bund Petersilie, die importiert wurden, kontrolliert. Schliesslich hat die Regierung Netanyahu die Hamas mitfinanziert.
Warum?
Je stärker die Hamas wurde, desto kleiner war die Wahrscheinlichkeit eines Friedens und damit eines palästinensischen Staates in den besetzten Gebieten. Netanyahus Israel kann mit der Zweistaatenlösung nicht leben. Aber es konnte gut mit der Hamas leben.
Ist die Zweistaatenlösung vom Tisch?
Die Zweistaatenlösung war lange vom Tisch. Der Horror des 7. Oktober hat sie wiederbelebt.
Sie favorisieren aber einen binationalen, föderalen Staat?
Genau. Wir haben schon zwei Religionen und zwei Sprachen. Die Grundlage dieses Staates sind die gleichen Rechte für alle Staatsbürger. Im ersten Stock des Staatsgebäudes sind zwei autonome Teilstaaten. Im zweiten Stock sind die gemeinsam verwalteten Institutionen – Infrastruktur, Umweltpolitik, Justiz. Je mehr Institutionen gemeinsam verwaltet werden, desto weniger Kompetenzen brauchen die autonomen Teilstaaten.
Und das Präsidium wechselt sich ab?
Alle höchsten Posten sollten doppelt besetzt werden, in regelmässigen Abständen rotierend. Israel muss einen Teil seiner Privilegien hergeben, um diese bessere Zukunft zu erlangen.
Wie lange dauert es, bis dieser Staat realisiert werden kann?
Es braucht weniger Zeit, neues Vertrauen aufzubauen, als es gebraucht hat, es zu zerstören. Vielleicht dreissig Jahre.
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