Eskalation in NahostIn Israel tobt ein Krieg im Innern
Eine neue Front verläuft durchs Land – die zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Sie ist gefährlicher als die Auseinandersetzung mit der Hamas in Gaza.
Dies sind schwere Tage für Israel, aber Kriege ist das Land gewohnt. Die Erfahrung lehrt: Es hagelt Raketen, und irgendwann kehrt wieder Ruhe ein. Doch nun hat sich plötzlich mitten in der jüngsten Schlacht um Gaza eine neue Front geöffnet, und von dort könnte am Ende weit mehr Gefahr drohen als von der Konfrontation mit dem äusseren Feind. Denn diese Front verläuft mitten durch Israel. Ein wüster Kampf ist entbrannt zwischen israelischen Juden und israelischen Arabern.
Die arabische Minderheit macht etwa 20 Prozent der rund neun Millionen Einwohner Israels aus, in vielen Städten ist die Bevölkerung gemischt. Von dort kommen nun alarmierende Bilder und Nachrichten. Den Anfang machte ein arabischer Mob in Lod, der angestachelt von den Kämpfen rund um die Jerusalemer Al-Aqsa-Moschee Synagogen in Brand setzte und Geschäfte plünderte. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Gewalt durchs Land, und sehr schnell sind auch jüdische Extremisten auf den Plan getreten, die mit dem Schlachtruf «Tod den Arabern» prügelnd durch Strassen ziehen.
Die Grundfesten des Staates sind bedroht
Der Schock ist gross, die Schlagzeilen über den Krieg im Innern übersteigen diejenigen über die Auseinandersetzung mit dem äusseren Feind, der Hamas. Von einer «Kristallnacht in Lod» ist die Rede, Präsident Reuven Rivlin spricht von «Bürgerkrieg», Regierungschef Benjamin Netanyahu warnt vor «Anarchie». Die Lage droht tatsächlich ausser Kontrolle zu geraten, und das bedroht die Grundfesten des Staates.
Die Koexistenz von Juden und Arabern in Israel ist immer schon fragil gewesen. Staatsgründer David Ben-Gurion hatte den arabischen Bürgern 1948 zwar explizit die gleichen Rechte wie den jüdischen Bürgern zugesichert, doch de facto leben sie in einer Parallelgesellschaft, weitgehend abgekapselt von den staatlichen Institutionen – und dazu in erstaunlichem Masse oft auch vom israelisch-palästinensischen Konflikt. Innerhalb Israels sind die Araber mit ihrer gefühlten Autonomie den ultraorthodoxen Juden ähnlich, allerdings mit einem grossen Unterschied: Sie haben praktisch keinen Zugang zur Macht, während die Parteien der Frommen fast in jeder bisherigen Koalition ihre Klientelpolitik betreiben konnten.
Die von Netanyahu betriebene Spaltung ist mit dafür verantwortlich, dass nun arabische und jüdische Mobs auf den Strassen Chaos verbreiten.
Die arabische Minderheit dagegen ist vom Staat seit je vernachlässigt worden. In der Ära Netanyahu kam noch ein weiteres Element dazu: gezielte Hetze und Ausgrenzung sowie ein 2018 verabschiedetes Nationalstaatsgesetz, das die israelischen Araber zu Bürgern zweiter Klasse machte.
Die von Netanyahu betriebene Spaltung ist mit dafür verantwortlich, dass nun arabische und jüdische Mobs auf den Strassen Chaos verbreiten. Fast tragisch daran ist, dass gerade jüngst die Hoffnung auf ein neues Kapitel der Koexistenz gewachsen war. Denn ein historischer Durchbruch stand kurz bevor: die Beteiligung einer arabischen Partei an einer Regierung der Einheit in Israel. Doch auch die schon weit fortgeschrittenen Koalitionsgespräche im Lager der Netanyahu-Gegner könnten jetzt zum Opfer des Gewaltausbruchs werden.
Rund um Gaza werden irgendwann die Waffen schweigen. Wie schon bei den früheren Kriegen zwischen der israelischen Armee und der palästinensischen Hamas werden sich die beiden Seiten dann weiter feindlich, aber getrennt gegenüberstehen. In Israel jedoch müssen sie weiter zusammenleben und dringend eine neue Balance finden.
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