Eskalation in NahostIsrael und die Palästinenser auf dem Weg zurück in die Hölle
Israel zerstört in Gaza ein Hochhaus und erwägt sogar eine Bodenoffensive. Die Hamas antwortet mit einem Raketenhagel – und könnte so ausgerechnet ihrem Erzfeind helfen.
Die Sirenen verstummen nicht mehr im Kibbuz Nahal Oz oder in Kerem Shalom, und auch nicht in Sderot und Ashqelon. Den ganzen Dienstag über lagen die israelischen Dörfer und Städte rund um den Gazastreifen unter heftigem Raketenbeschuss – und im Gegenzug wurden nahezu ununterbrochen Ziele innerhalb des palästinensischen Küstengebiets von der israelischen Armee bombardiert.
Ob dieser heftigste Schlagabtausch seit Jahren zum vollen Krieg eskaliert, ist noch nicht abzusehen. Aber das Potenzial zum Kontrollverlust ist gross, die Drohungen sind gewaltig, und es ist gewiss kein gutes Omen, dass die israelische Seite ihrer Operation bereits einen klangvollen Namen gegeben hat: «Wächter der Mauern».
Der Konflikt hat sich angebahnt
Mit den Mauern sind in dieser militaristischen Lyrik wohl jene von Jerusalem gemeint. Dort hatte sich der Konflikt angebahnt im Verlauf des Fastenmonats Ramadan. Hunderte Verletzte waren in den vergangenen Tagen bereits bei Schlachten rund um den Tempelberg gezählt worden. Nun aber sind es zunächst einmal die Mauern andernorts, die erbeben unter dem wechselseitigen Beschuss.
In dem von der islamistischen Hamas beherrschten Gazastreifen, wo es anders als in Israel keine Sirenenwarnung und kein Raketenabwehrsystem gibt, hat es bereits in den ersten 24 Stunden zahlreiche Opfer gegeben. Das dortige Gesundheitsministerium meldete am Dienstag – als bedrückenden Zwischenstand – 26 Tote und weit mehr als hundert Verletzte. Neun Kinder sollen unter den Toten sein.
Gezielte Angriffe
Die israelische Armee greift nach eigenen Angaben gezielt Stellungen der Hamas und des Islamischen Jihad an. Dazu gehören neben Raketenabschussrampen auch Waffenlager, das Hauptquartier des Hamas-Geheimdienstes und unterirdische Tunnel. Per Luftangriff auf sein Haus wurde ein Hamas-Kommandeur getötet. Zwei führende Mitglieder des Islamischen Jihad starben bei einem Drohnenangriff.
Israels Militär stellt sich offenkundig bereits auf länger andauernde Kämpfe ein. Zusätzliche Artillerie wurde ins Grenzgebiet geschafft, 5000 Reservisten wurden einberufen. Dies sei ein «grösserer Konflikt ohne Zeitlimit», heisst es in einer Erklärung. Armeesprecher Hidai Zilberman brachte bereits die Möglichkeit einer Bodenoperation ins Spiel.
Erinnerung an vergangene Kriege
So wird nach einem vor allem der Pandemie geschuldeten Jahr der relativen Ruhe die Erinnerung wachgerüttelt an drei vorhergehende Gazakriege zwischen den gleichen Kontrahenten in den Jahren 2008/09 sowie 2012 und 2014. Sie kosteten jeweils viele Menschenleben und richteten enorme Schäden an, veränderten aber nichts an der Ausgangslage im Konflikt zwischen Israel und der Hamas.
In dieser neuen Runde wurden aus dem Gazastreifen bereits Hunderte Raketen auf Israel abgefeuert. Ein Sprecher des militärischen Arms der Hamas brüstete sich gar in einer Art Rekordgier damit, dass innerhalb von nur fünf Minuten exakt 137 Raketen abgeschossen worden seien. «Viele mehr» würden noch folgen. Das meiste wurde vom Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangen oder schlug im grenznahen Gebiet ein. Doch auch Ziele in grösserer Entfernung können ins Visier geraten, wie die Hamas am Montag mit ihrer Auftaktsalve in Richtung Jerusalem bewiesen hatte.
Mehrere Todesopfer
Am Dienstag traf es zunächst die Küstenstadt Aschkelon, wo zwei Frauen getötet und zahlreiche weitere verletzt wurden, als Raketen direkt in Wohnhäuser einschlugen. Getroffen wurde dort auch ein Schulgebäude, das zum Glück leer stand. Zuvor hatte die Hamas angekündigt, Aschkelon «in eine Hölle» zu verwandeln. Die Armee rief alle Bewohner dort auf, in Schutzräumen zu bleiben.
Am Abend erklärte die Hamas, sie habe insgesamt 130 Raketen auf Tel Aviv abgeschossen und sprach von einer Reaktion auf die Zerstörung eines Hochhauses in Gaza wenige Stunden zuvor. Im «Hanadi-Turm» hatten Mitgliedern des Hamas-Politbüros und Sprecher der islamistischen Palästinenserorganisation ihre Büros gehabt.
Das israelische Abwehrsystem war offenkundig überfordert. In Rischon starb eine Frau beim Einschlag einer Rakete in ihr Wohnhaus. In Holon wurde ein Bus getroffen, auch dabei soll laut Rettungskräften eine Frau getötet worden sein. Sechs Menschen wurden verletzt. Am internationalen Ben-Gurion-Flughafen wurde der Flugverkehr eingestellt.
Angespannt bleibt die Lage auch in Jerusalem – und angesichts der jüngsten Äusserungen des israelischen Polizeichefs Kobi Shabtai ist wohl auch so bald keine Entspannung zu erwarten. Nach viel Kritik am brutalen Vorgehen seiner Einsatzkräfte auf dem Tempelberg kündigte er nun an, die «Kinderhandschuhe» auszuziehen. Bislang sei man viel zu vorsichtig vorgegangen.
Synagogen verwüstet
An welchem Pulverfass er hier zündelt, war in der Nacht zuvor zu sehen, als aufgestachelt durch die Vorfälle in Jerusalem in zahlreichen anderen Städten arabische Israelis randalierten. In Ramle wurden mehrere Synagogen verwüstet. In der Nachbarstadt Lod wurde während der Unruhen ein 25-jähiger Araber mutmasslich durch Schüsse eines jüdischen Einwohners getötet.
Aus der Regierung in Jerusalem sind inmitten der Kämpfe nur noch starke Worte zu hören. «Wir werde keine Angriffe auf unser Territorium, auf unsere Hauptstadt, auf unsere Bürger und auf unsere Soldaten hinnehmen», sagte Premierminister Benjamin Netanyahu. «Wer uns angreift, wird einen hohen Preis zahlen.»
Netanyahu profitiert
Unisono schlossen sich dem auch all jene politischen Kräfte an, die sich gerade in intensiven Verhandlungen darum bemühen, Netanyahu von der Macht zu verdrängen. Sein Gegenspieler Jair Lapid forderte «ein hartes und entschlossenes Vorgehen» – und kann dabei nur hoffen, dass die Kämpfe schnell beendet werden. Denn mit jedem Tag, an dem Raketen fliegen, sinken seine Chancen auf die Bildung einer Regierung. Mansour Abbas, Chef der arabischen Raam-Partei, hat seine Teilnahme an Koalitionsgesprächen erst einmal ausgesetzt. Die Gewalt zwischen den beiden Völkern macht ihm den geplanten Schulterschluss derzeit unmöglich.
So könnte die Hamas mit ihren Raketensalven am Ende ausgerechnet dem Erzfeind Netanyahu wieder eine Chance auf den Machterhalt verschafft haben. Eilig dürfte es Netanyahu deshalb wohl kaum haben, diese Kämpfe zu beenden.
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