Nahostkonflikt entzündet sich auf TempelbergVon den Unruhen in Jerusalem profitieren die Mächtigen beider Seiten
Die Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis speist sich aus vielen Quellen. Sie ist für Präsident Abbas und Premier Netanyahu eine nicht unwillkommene Ablenkung von innenpolitischen Problemen.
Ein Wochenende der Gewalt hat Jerusalem erschüttert. Bei Strassenschlachten wurden fast 300 Palästinenser sowie etliche israelische Polizisten verletzt. Die Heilige Stadt und das ganze unruhige Land ringsherum sind nun im Alarmzustand. Denn die Unruhe speist sich gleich aus mehreren Quellen, und Möglichkeiten zur weiteren Eskalation werden sich in den nächsten Tagen reichlich bieten.
Spannungen herrschen in Jerusalem schon während des gesamten muslimischen Fastenmonats Ramadan, der in dieser Woche zu Ende geht. Die israelische Polizei hatte sie provoziert mit der zwischenzeitlichen Sperrung des Platzes vor dem Damaskus-Tor im arabischen Ostteil der Stadt. Doch kaum beruhigte sich hier die Lage, hat sich der Konflikt nun am heikelsten und seit je am meisten umkämpften Ort der Stadt entzündet: auf dem Tempelberg, den die Muslime Haram al-Sharif nennen, das edle Heiligtum.
Zehntausende hatten sich zum Gebet versammelt
Ausgerechnet dort, zwischen Felsendom und Al-Aqsa-Moschee, kam es in der Nacht zum Samstag zu den schlimmsten Schlachten, die die Stadt seit Jahren erlebt hat. Zehntausende Menschen hatten sich am letzten Freitag des Ramadan zum Gebet versammelt. Danach explodierte die Gewalt. Erst wurden israelische Sicherheitskräfte mit Steinen und Flaschen beworfen. Als Reaktion darauf stürmten sie das Gelände, setzten Gummigeschosse ein und Tränengas. Auf Videos ist zu sehen, wie Sicherheitskräfte mit schweren Stiefeln über Gebetsteppiche stampfen und wie die israelische Polizei eine Rauchbombe selbst in das Innere der Al-Aqsa-Moschee wirft.
Wenn es um al-Aqsa geht, ist schnell die gesamte muslimische Welt in Aufruhr. Scharfe Kritik am Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte kam nicht nur aus Jordanien, Ägypten und Saudiarabien, sondern auch von Israels neuen Freunden am Golf, aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus Bahrain. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schwang sich gar dazu auf, Israel als «Terrorstaat» zu verurteilen.
Ein Anlass für die Wut der Palästinenser, die sich am Freitag nach dem Al-Aqsa-Gebet entlud, ist ein Konflikt im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Dort sind mehrere palästinensische Familien akut von der Zwangsräumung ihrer Häuser bedroht, weil die Grundstücke von israelischen Siedlern beansprucht werden. Diese hatten vor den Gerichten erfolgreich damit argumentiert, dass das Land vor dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 in jüdischem Besitz war. Danach allerdings hatten die jordanische Regierung und die UNO 1956 dort Häuser für arabische Familien gebaut, die aus Israel vertrieben worden waren.
Für Abbas eine willkommene Ablenkung
Die israelische Seite versucht den Konflikt nun lediglich als einen Streit um Immobilienbesitz darzustellen. Die arabische Bevölkerung aber sieht darin einen weiteren Schritt zur Vertreibung aus Jerusalem. Mit dem Kampf der Bewohner von Sheikh Jarrah haben sich deshalb inzwischen viele solidarisiert – von den israelischen Arabern bis zu den verschiedenen Palästinensergruppen im Westjordanland und im Gazastreifen.
Eine Anhörung vorm Obersten Gerichtshof Israels wurde am Sonntag nach einem Antrag des israelischen Generalstaatsanwalts abgesagt. Ein neuer Termin wird in den nächsten 30 Tagen angesetzt.
Für Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas, der im Westjordanland regiert, sind die aufflammenden Konflikte ein willkommenes Ablenkungsmanöver, um der Wut der eigenen Bevölkerung über die Absage der geplanten Wahl zu entkommen. Für seine internen Rivalen von der Hamas, die im Gazastreifen herrschen, sind sie eine Gelegenheit, zugleich Abbas und Israel unter Druck zu setzen. Hamas-Führer Ismail Hanija hat dazu die Palästinenser im Westjordanland zur «Intifada» aufgerufen, zu einem Aufstand.
Regierungsbildung in Israel gefährdet
Die Welle der Gewalt könnte überdies die Bemühungen zur Bildung einer neuen israelischen Regierung erschweren. Denn das geplante Bündnis aus rechten, linken und Zentrumsparteien braucht zur Mehrheit im Parlament die Unterstützung arabischer Abgeordneter – und die dürfte inmitten gewalttätiger israelisch-palästinensischer Konflikte schwerer zu bekommen sein. Profiteur im Falle eines Scheiterns der Regierungsbildung wäre der amtierende Premierminister Benjamin Netanyahu, der dann wiederum auf eine neue Chance bei einer weiteren Parlamentswahl hoffen könnte.
Aufrufe zur Deeskalation kommen nun aus aller Welt. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat sich besorgt über die Gewalteskalation in Jerusalem gezeigt. Es rief die Konfliktparteien zur Beilegung der Spannungen auf.
«Die Gewalteskalation im Nahen Osten, namentlich die Zusammenstösse auf dem Tempelberg in Jerusalem, die in den vergangenen Tagen zu zahlreichen Verletzten führten, ist sehr beunruhigend», schrieb das EDA am Sonntag in einer Mitteilung.
Auch die neue US-Regierung zeigt sich «extrem besorgt». Doch in den kommenden Tagen könnten die Spannungen sogar noch steigen. Denn für diesen Montag wird eine Entscheidung des israelischen obersten Gerichts zur Räumung in Sheikh Jarrah erwartet. Und von Sonntagabend an wird in Israel der Jerusalem-Tag gefeiert, der an die Eroberung des arabischen Ostteils der Stadt im Krieg von 1967 erinnert. Höhepunkt ist in jedem Jahr ein Flaggenmarsch, bei dem am Montag voraussichtlich Tausende Israelis durch das muslimische Viertel der Altstadt ziehen werden.
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