Wahlen in der TürkeiIn Genf lieben sie Erdogan, in der Deutschschweiz verachten sie ihn
Durch die türkische Diaspora in der Schweiz verläuft ein Röstigraben. Die innerschweizerischen Unterschiede beim Wahlverhalten haben zwei Gründe.
Die Hoffnung der Schweizer Türkinnen und Türken auf einen Machtwechsel in ihrer Heimat war gross. Zumindest in der Deutschschweiz. Die Botschaft in Bern und das Konsulat in Zürich verzeichneten jeweils über 60 Prozent der Wählerstimmen für den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu. Anders in Genf: Dort wählten 58,7 Prozent der Schweizer Türkinnen und Türken den amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Diese innerschweizerischen Unterschiede im Wahlverhalten der türkischen Diaspora haben vor allem zwei Gründe.
Erstens: Türkische Franzosen gehen in Genf an die Urne
Viele Grenzgänger und Grenzgängerinnen aus Frankreich geben ihre Stimme in Genf ab, denn für den Wahlgang benötigen sie ausschliesslich den türkischen Pass. Das bestätigt die türkische Botschaft in Bern. Kein anderer Schweizer Kanton hat mehr Grenzgängerinnen und Grenzgänger als Genf.
Türkinnen und Türken aus Frankreich, die als Grenzgänger in der Schweiz arbeiten und hier wählen, sind eher Erdogan-freundlich eingestellt. Warum? Das ist historisch bedingt: Türkische Arbeitsmigranten gingen ab den Achtzigerjahren vor allem nach Deutschland und Frankreich, die ihnen die Türen öffneten oder sie aktiv abwarben. Sie stimmen eher für Erdogan, weil er für sie den sozialen Aufstieg verkörpert. In Deutschland, der Heimat der grössten türkischen Diaspora, gingen mehr als 460’000 Stimmen an Erdogan, also 66 Prozent. Nur 33 Prozent wählten Kilicdaroglu. Auch in Frankreich, wo die zweitgrösste türkische Diaspora lebt, erhielt Erdogan mit 64 Prozent eine klare Mehrheit der Stimmen.
Diesen Befund bestätigt Politologe Claude Longchamp. «In Deutschland und Frankreich ist die türkische Einwanderung historisch gesehen eher ein Unterschichtsphänomen, im Gegensatz zur Schweiz.» Er geht davon aus, dass das Bildungsniveau bei der Wahl Erdogans eine Rolle spiele.
Zweitens: Aleviten und Kurden wohnen in der Deutschschweiz
Einen weiteren Grund für die innerschweizerischen Unterschiede führt die Basler Grossrätin Edibe Gölgeli. Mehr als die Hälfte der in der Schweiz lebenden türkischen Staatsbürger sind Aleviten. Sie gelten als besonders liberale Muslime. Als religiöse Minderheit erfahren sie bis heute in der mehrheitlich sunnitischen Türkei Repressionen und Diskriminierungen.
Vor allem nach dem Militärputsch 1980 flohen viele Angehörige der linken Opposition, unter der die Glaubensgemeinschaft besonders zahlreich vertreten ist, in die Schweiz. «Sie waren vor allem politische Flüchtlinge und nicht Arbeitsmigranten wie in Deutschland und Frankreich.» Auch Gölgelis Vater fand deshalb den Weg in die Schweiz. «Die kurdische und alevitische Community lebt mehrheitlich in der Deutschschweiz und ist stark oppositionell eingestellt», so Gölgeli. Sie hätten es geschafft, breit zu mobilisieren.
Politologe Claude Longchamp teilt diese Einschätzung. «Der Oppositionskandidat Kilicdaroglu bekennt sich zu seinen alevitischen Wurzeln und erhält aus dieser Community viel Unterstützung.»
Keine grossen Hoffnungen mehr
Derweil macht sich in der türkischen Diaspora der Schweiz Ernüchterung breit. Mit einer rekordhohen Wahlbeteiligung von 56,7 Prozent waren über 60’000 Türkinnen und Türken hierzulande in die Wahllokale nach Genf, Bern und Zürich geströmt. Doch nun kommt es am 28. Mai zur Stichwahl. Der Langzeitpräsident Erdogan steht mit einem Vorsprung von 2,5 Millionen Stimmen vor der Wiederwahl. «Die Aussichten für die Opposition sind denkbar schlecht», sagt der 47-jährige Basler Schulsozialarbeiter Serdal Suna. Selbst wenn der dritte Kandidat Sinan Ogan, ein Ultranationalist, eine Wahlempfehlung für Kilicdaroglu abgeben würde, dürften seine Wählerstimmen eher Erdogan zufallen.
Serdal Suna klingt bedrückt. Die Stimmung in seinem Umfeld sei schlecht. Er hatte sich in seiner Heimat einen Machtwechsel und das Ende des Präsidialsystems gewünscht. Trotzdem wird er nach Zürich reisen und seine Stimme erneut abgeben, wenn auch ohne grosse Hoffnung. «Vielleicht schaffen wir die Wende 2028.»
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