Hitzewelle in GrossbritannienIm wohltemperierten England wird es «heisser als in der Sahara»
Erstmals in der Inselgeschichte werden für Dienstag mehr als 40 Grad Celsius erwartet. In London herrscht regelrechte Katastrophenstimmung.
Für Britinnen und Briten waren «die heissen Tage» immer eine sehnsüchtig erwartete Zeit, assoziiert mit Ausflügen zum Strand, mit bimmelnden Glacewägelchen, Besuchen in Pub-Gärten und abendlichen Grillfesten im Garten. Britische Zeitungen pflegten entsprechende Wochenenden anzukündigen mit Bildern glücklicher Wasserhüpfer und Strandballspieler vorm Hintergrund viktorianischer Piers und bunter Frachtkähne auf dem Ärmelkanal. «Grossbritanniens lange Liebesaffäre mit dem warmem Wetter ist ja auch verständlich», seufzt der britische Autor John Burn-Murdoch. «Unser Klima ist bekanntlich grau und feucht. Und Hitzewellen haben in der Vergangenheit kaum je 30 Grad erreicht.»
Am Montag kam das Vereinigte Königreich in Teilen aber erstmals der 40-Grad-Marke nahe. Am Dienstag soll es sogar noch ein paar Grad heisser sein. Und auf solche Temperaturen sind die Briten nicht vorbereitet. Zum Beispiel gibt es weit weniger Klimaanlagen auf den Britischen Inseln als auf dem Kontinent. Häuser und öffentliche Verkehrsmittel sind für extreme Hitze (oder extreme Kälte) schlicht nicht gerüstet. Feuerwehrleute registrieren schockiert, dass es plötzlich auch in Englands Nationalparks zu einem Flächenbrand kommen kann.
Zugverbindungen eingestellt
«Unsere Lebensart und unsere Infrastruktur sind nicht eingestellt auf das, was da auf uns zukommt», klagt Penny Endersby, die Chefin des Meteorologischen Amtes in London. Weshalb das Met Office, erstmals in seiner Geschichte, eine «rote Wetterwarnung» für weite Teile des Landes zum Anfang dieser Woche herausgab. Auch der Katastrophenausschuss der britischen Regierung hat bereits zweimal getagt.
Während viele Briten sich am Montag in Haushaltswarengeschäften in letzter Minute noch mit Ventilatoren und kleinen Kühlgeräten eindeckten, wurden ganze nationale Zugverbindungen vorsorglich eingestellt – weil man befürchtete, Gleise und Apparaturen könnten der Hitze nicht standhalten in dieser Situation.
Unbekümmerte Autofahrer sind gewarnt worden, dass sich ihre Gefährte in «mobile Mikrowellenherde» verwandeln könnten. Londonern wurde geraten, zwei Tage lang lieber ganz daheimzubleiben, als auf die Strasse zu gehen. Schuldirektoren liessen Sportfeste und Ausflüge, die für die letzten Tage vor den Sommerferien geplant waren, ausfallen. Kindern, die noch zum Unterricht kamen, war es erlaubt, statt in Schuluniform in Sportkluft oder in anderer luftiger Kleidung zu erscheinen.
Operationen abgesagt
Ernsten Problemen sieht sich das Nationale Gesundheitswesen, der NHS, in der Hitze gegenüber. Schon seit längerem hat der NHS schwer zu kämpfen mit Personalausfällen, mit Bettenknappheit, mit erneuten Covid-Fällen und mit endlosen Wartelisten überall. Zuletzt mussten Patienten vor Klinikportalen stundenlang in den Rettungswagen, in denen sie gekommen waren, sitzen oder liegen bleiben – weil die Kliniken keinen Platz für sie hatten, manchmal den ganzen Tag hindurch. Solche Praktiken könnten lebensgefährlich werden bei 40 Grad Aussentemperatur, fürchteten Ärzteverbände. Mancherorts wurden geplante Operationen am Montag abgesagt.
«Heisser als in der Sahara» werde es diese Woche sein im sonst wohltemperierten England, klagte Londons Boulevardblatt «The Sun» auf seiner Frontseite am Montag. Wohingegen der «Daily Express» sich von all dem Klimawandel unbeeindruckt gab: «Das ist ja nicht das Ende der Welt. Bleibt cool, Leute, und macht einfach weiter wie bisher.» Das schien auch die Überzeugung einiger der Kandidaten zu sein, die zurzeit um die Nachfolge Boris Johnsons ringen. Keiner von ihnen zeigte bisher viel Enthusiasmus für den Kampf gegen den Klimawandel.
Fehler gefunden?Jetzt melden.