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«Nurse-Led Consultations» in Spitälern
In Chur dürfen Pflegende Resultate beurteilen und Medikamente abgeben

Pflegefachfrau Barbara Stoffel verabreicht Patientin Ursula Bernhard eine Infusion im Kantonsspital Graubuenden.
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In Kürze:
  • Das Kantonsspital Graubünden hat Nurse-Led Consultations erfolgreich eingeführt.
  • Pflegefachpersonen übernehmen erweiterte Aufgaben zur Entlastung von Ärztinnen und Ärzten.
  • Patientinnen wie Ursula Bernhard profitieren von flexiblerer und ruhigerer Versorgung.

Alle vier Wochen muss Ursula Bernhard ins Kantonsspital Graubünden in Chur, um sich eine Infusion geben zu lassen. Die 81-Jährige war vor 15 Jahren an Lymphdrüsenkrebs erkrankt. Wegen des geschwächten Immunsystems braucht sie seither regelmässig künstlich hergestellte Antikörper. «Ich war in einem extrem schlechten Zustand», erinnert sich die Churerin. «Mein Körper versagte total, alles war durcheinander.» Es kam zu diversen Entzündungen und sogar zu einer Blutvergiftung.

Vor den Infusionen steht jeweils eine kurze Konsultation an, um den Gesundheitszustand der Patientin zu erheben. Bis vor einem guten Jahr waren dafür ausschliesslich die Ärztinnen und Ärzte zuständig. Mittlerweile wird Bernhard jedes zweite Mal von einer Pflegefachperson empfangen und untersucht.

Der Grund: Vor drei Jahren hat das Kantonsspital Graubünden in der Krebsversorgung sogenannte Nurse-Led Consultations eingeführt, die von erfahrenen Pflegefachpersonen mit Zusatzausbildung übernommen werden. Diese haben Kompetenzen erhalten, die normalerweise nicht in den pflegerischen Zuständigkeitsbereich gehören.

Zum Beispiel dürfen sie Laboruntersuchungen anordnen und die Resultate beurteilen, Untersuchungen vornehmen wie etwa Darm oder Lunge abhören sowie eine Reihe vordefinierter Medikamente abgeben, etwa Mittel gegen Übelkeit oder Verstopfung. Die Behandlung erfolgt jedoch immer noch in enger Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft, die auch die Hauptverantwortung trägt.

Pflegefachpersonen sind gemäss Studie zufrieden

Der Ansatz ist nicht neu, kommt aber zunehmend zur Anwendung. Pflegefachpersonen mit erweiterten Kompetenzen – sogenannte klinische Fachspezialisten oder «Physician Assistants» – arbeiten schweizweit mittlerweile an rund 50 medizinischen Institutionen, wie die «Schweizerische Ärztezeitung» vor einem guten Jahr schrieb. Vorreiterin war hierzulande das Kantonsspital Winterthur, das entsprechende Personen zum ersten Mal 2014 auf der Chirurgie einsetzte.

Aber auch in der Diabetesberatung, der Infektionsprävention, der Traumatologie und diversen anderen Fachbereichen arbeiten immer mehr Pflegefachpersonen mit erweiterten Kompetenzen. Im Fachbereich Onkologie sind sie zum Beispiel auch am Kantonsspital Glarus und am Lindenhofspital in Bern tätig. In den USA und Grossbritannien ist das Modell seit Jahrzehnten etabliert, wobei es in letzterem Land kürzlich in die Kritik geraten ist.

Nun hat das Kantonsspital Graubünden das Projekt zum ersten Mal wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. In Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Luzern führte es eine Studie durch, bei der gut 50 Patientinnen, 15 Pflegende und 10 Ärzte zweimal zu ihrer Zufriedenheit befragt wurden – einmal vor der Einführung und das zweite Mal während der vermehrten Betreuung durch das Pflegepersonal.

Dabei hat sich gezeigt, dass vor allem die Patienten und das Pflegepersonal von der Neuorganisation profitieren. Erstere sind flexibler in der Terminplanung, müssen weniger lange warten und erleben den Ablauf als ruhiger. «Ich fühle mich sehr gut aufgehoben», sagt auch Lymphknotenkrebs-Patientin Ursula Bernhard.

Pflegefachpersonen so gut wie Oberärzte

Auch die Onkologie-Pflegefachfrau Barbara Stoffel findet Gefallen an ihrer neuen Rolle. «Die Arbeit ist interessant, und ich kann mehr Verantwortung übernehmen», sagt die 47-Jährige mit über 20-jähriger Berufserfahrung. Nach der Ausbildung an einer Höheren Fachschule hat sie einen Bachelor mit Spezialisierung auf Krebserkrankungen erworben und sich später auch noch zur «Breast Care Nurse» (Brustkrebs-Pflegefachfrau) weitergebildet.

Die Pflege sei in den letzten Jahren viel professioneller geworden, beobachtet Roger von Moos, Direktor des Tumor- und Forschungszentrums am KSGR und Initiator des Projekts. «Erfahrene Pflegefachpersonen mit Zusatzausbildungen verfügen heutzutage in einzelnen Bereichen über das Wissen von Oberärztinnen und -ärzten.»

Für diese Gruppe schaffe die neue Funktion zusätzliche Perspektiven und erhöhe die Chance, dass sie länger im Beruf bleibe. Und das sei entscheidend für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, betont der langjährige Chefarzt der Onkologie.

Langjährige Therapien brauchen mehr Kapazitäten

Gerade bei den Krebserkrankungen steigt die Lebenserwartung wegen der besseren Therapien stetig. Nach der Erstbehandlung mit Methoden wie Chemotherapie, Operation, Bestrahlung und Immuntherapie ist wie bei Ursula Bernhard oft eine langjährige Nachbehandlung nötig. Auch zum Beispiel bei schwarzem Hautkrebs (malignes Melanom) führen über Jahre durchgeführte Immuntherapien häufig zu gutem Erfolg oder sogar vollständiger Heilung.

Bei vielen dieser Therapien handle es sich um Routineverfahren, die nicht jedes Mal von einem Arzt betreut werden müssten, erklärt von Moos. Das sei aufgrund des Fachkräftemangels auch gar nicht mehr möglich. Denn mit den langfristigen Nachversorgungen sei die Anzahl Konsultationen etwa um das Zehnfache gewachsen. «Das können wir schlicht nicht bewältigen.»

Kaum Entlastung der Ärzte

Für eine umfassende Versorgung der Patientinnen und Patienten müssten deshalb alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen gut zusammenarbeiten, betont der Experte für Therapieoptimierung und Kostenmanagement. Unter eher älteren Ärztinnen und Ärzten gebe es zwar teilweise immer noch Vorbehalte gegenüber Kompetenzerweiterungen beim Pflegepersonal, weiss er. Das sei nicht zielführend: «Die Zeit der Standesdünkel und Klassenkämpfe sollte endlich vorbei sein.»

Die Angst vor Statusverlust ist aber nicht der einzige Grund, wieso nicht alle Ärztinnen und Ärzte rundum glücklich sind mit dem neuen System. Die Studie am Kantonsspital Graubünden hat nämlich auch gezeigt, dass die Zufriedenheit bei ihnen tiefer ausfällt als bei Patienten und Pflegepersonal. Dies hängt damit zusammen, dass ihre frei werdenden Kapazitäten meist gleich wieder von komplexeren Fällen aufgefüllt werden. Zudem bleiben an ihnen tendenziell die schlechteren Verläufe hängen, während Krebskranke mit guter Heilung eher vom Pflegepersonal betreut werden können. «Dies führt zu mehr Frustration und manchmal gar zu Burn-outs», erklärt Roger von Moos.

Die Neuorganisation sei keineswegs ein Sparprogramm, betont er. Denn mittelfristig müsse das Pflegepersonal auch entsprechend seinen Leistungen und Fähigkeiten entlöhnt werden. Im Kantonsspital Graubünden sind die Gehälter bis jetzt nämlich nicht gestiegen. Die längst überfällige Anpassung der Tarife müsse auch diesen neuen Entwicklungen Rechnung tragen, fordert von Moos. «In Zeiten, in denen ein Grossteil der Spitäler Defizite einfährt, können derartige Optimierungen ansonsten nicht realisiert werden.»

Skepsis hat sich gelegt

Bei den Pflegefachpersonen dagegen scheint sich die Skepsis gegenüber den neuen Aufgaben unterdessen gelegt zu haben. Noch vor zehn Jahren äusserte der Berufsverband SBK Bedenken, dass das Pflegepersonal instrumentalisiert werde, um die Ärzte zu entlasten. Mit der Übernahme zusätzlicher Aufgaben würde sich zudem der Personalmangel in der Pflege verschärfen, befürchtete man.

Unterdessen tönt es versöhnlicher. «Es gibt immer mehr alte und hochaltrige Personen und damit auch mehr Menschen mit chronischen und Mehrfacherkrankungen», gibt Roswitha Koch vom SBK zu bedenken. «Um den zunehmenden Bedarf an medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Leistungen zu decken, müssen weitere Berufsgruppen mehr Verantwortung übernehmen können.»

«Das sind geschenkte Jahre»

Auch Ursula Bernhard wird sich demnächst wieder ins Spital begeben, um ihre nächste Infusion mit Antikörpern zu erhalten. Körperlich sei sie nicht mehr gut im Schuss, sagt die ehemalige Postmitarbeiterin. «Es ist mir oft schwindlig, und ich bin unterdessen auf einem Auge blind.»

Manchmal geht sie aber noch in der Churer Altstadt spazieren und erinnert sich, wie sie hier oft mit ihrem verstorbenen Mann unterwegs war. Grosse Freude machen ihr auch die beiden Katzen ihres Sohnes, die sie hütet, wenn er in den Ferien ist. «Als ich an Krebs erkrankte, war meine Prognose nicht gut», ist sich die betagte Frau bewusst. Doch unterdessen habe sie die Krankheit schon sehr lange überlebt. «Das sind geschenkte Jahre.»