Prozess gegen AntifaschistinDie Frau in Ketten
Für Italiens Linke ist Ilaria Salis eine Heldin, für die rechte Regierung in Rom ein diplomatisches Ärgernis. In Ungarn droht der Lehrerin eine lange Haftstrafe wegen Körperverletzung. In ihrem Tagebuch schildert sie Schreckliches.
Seit über einem Jahr sitzt Ilaria Salis im Gefängnis. Aber während der vergangenen Wochen schien es mehrmals, als werde die Italienerin ihre Zelle in einem Budapester Hochsicherheitstrakt bald verlassen können. Das italienische Aussenministerium bemüht sich darum, dass die 39-jährige Lehrerin das Urteil in ihrem Prozess unter Hausarrest abwarten darf oder sogar nach Italien abgeschoben wird. Doch nachdem Ungarns Aussenminister Péter Szijjártó vor wenigen Tagen Rom besucht und seinen Amtskollegen Antonio Tajani getroffen hatte, titelte die italienische Zeitung «La Repubblica»: «Der ungarische Minister friert Italien ein».
Wie der Regierungssprecher des osteuropäischen Landes auf X schrieb, hat Szijjártó bei seinem Rombesuch gesagt, die linksradikale italienische Aktivistin sei nach Ungarn gereist, um Unschuldige anzugreifen. Die Worte des Aussenministers seien gewesen: «Es ist überraschend, dass sich Italien in einen Fall einmischt, für den allein unsere Justiz verantwortlich ist. Ich hoffe, diese Dame wird ihre verdiente Strafe in Ungarn erhalten.» Laut italienischen Medien dürfte ein Regierungssprecher so etwas kaum zitieren, ohne dass Ungarns Premier Viktor Orban damit einverstanden ist.
Die ungarische Justiz wirft Ilaria Salis vor, am 10. Februar 2023 in Budapest drei Rechtsextreme – zwei Deutsche und einen Ungarn – angegriffen und schwer verletzt zu haben. Die antifaschistische Aktivistin war mit dem Zug in die ungarische Hauptstadt gereist, weil Neonazis, SS-Nostalgiker und Hitlerverehrer aus halb Europa dort einmal jährlich den «Tag der Ehre» feiern. Sie gedenken ungarischer Truppen und deutscher SS-Verbände, die 1945 versuchten, den sowjetischen Belagerungsring um die Hauptstadt zu durchbrechen.
Vorgeführt wie ein Tier
Ein knappes Jahr nach Salis’ Verhaftung begann am 29. Januar 2024 in Budapest der Prozess. Mit Hand- und Fussfesseln musste die Angeklagte den Gerichtssaal betreten, zusätzlich hielt eine Beamtin eine Leine in der Hand, deren Ende an einer um Salis’ Bauch geschlungenen Manschette befestigt war. Die Bilder und Videoaufnahmen, weltweit in Zeitungen und auf Internetportalen verbreitet, entsetzten Italiens Öffentlichkeit. Wie ein Tier! Wie ein Hund!
Was Ilaria Salis in Ungarn widerfährt, ist mehr als ein Einzelschicksal. Die sich verschärfende Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern in Italien; die Frage, ob Ungarn unter Viktor Orban noch ein Rechtsstaat sei und ob der Regierungschef mit seiner Vision einer «illiberalen Demokratie» europäische Grundwerte verrate; der Kulturkampf zwischen links und rechts; die Radikalisierung an den politischen Rändern; Reizwörter wie Neonazis, Antifa-Linksextremisten, Terrorismus – all dies lädt den Fall der jungen Italienerin mit grosser symbolischer Bedeutung auf.
«Der reale Wahnsinn»
Inzwischen sind zahlreiche Tagebucheinträge, die Salis während ihrer Gefangenschaft verfasst hat, an die Öffentlichkeit gelangt. Darin schildert die Italienerin, wie sie in einer winzigen Einzelzelle voller Ratten und Wanzen sitze, dass sie tagelang dieselben Kleider trage und wochenlang nicht mit ihren Eltern sprechen dürfe. «Am Morgen übergeben sie mir fast tausend Seiten Ermittlungsdokumente, verfasst in dieser fremden Sprache, die für mich Ungarisch ist», heisst es in einer Aufzeichnung. Und in einer anderen: «Ich kann nicht einmal mehr mit meiner Mutter sprechen. Ich kann und will nicht glauben, dass dieser Wahnsinn real ist. Es ist unmöglich, ich habe sie gestern zum ersten Mal nach Wochen gehört!»
Aber was genau ist im Februar des vergangenen Jahres in Budapest geschehen? Unter dem Titel «Ilaria Salis, die Geisel» hat die linksliberale «Repubblica» kürzlich die Ereignisse anhand von Zeugenaussagen und Gerichtsdokumenten zu rekonstruieren versucht.
Schlägt auch Salis zu?
Nachdem ihr Zug am 10. Februar 2023 kurz nach 10 Uhr morgens die ungarische Hauptstadt erreicht hat, begibt sich Salis zusammen mit zehn anderen Aktivistinnen und Aktivisten zum Szell-Kalman-Platz. Hier sprechen sie einen ungarischen Neonazi an, der kurz darauf in einer Postfiliale verschwindet. Als er wieder auf die Strasse tritt, so erzählt es «La Repubblica», prügeln vermummte Mitglieder der antifaschistischen Gruppierung mit Schlagstöcken auf ihn ein. Eine Kamera filmt sie. Laut Zeugen schlägt auch Salis zu, was sie bis heute bestreitet. Einem ärztlichen Rapport zufolge sind die Verletzungen, die das Opfer an Kopf, Hals und Augen erleidet, binnen einer Woche heilbar.
Am selben Abend besuchen sechs Antifa-Kämpfer das Konzert einer rechtsradikalen Rockband. Zur Gruppe gehört auch Ilaria Salis. Nach dem Konzert folgen sie einer jungen Frau und einem jungen Mann aus Deutschland, die an dem Anlass teilgenommen haben. Beim Angriff der Antifa-Aktivisten erleiden auch die beiden Deutschen Verletzungen, die laut ärztlichem Befund in fünf bis sechs Tagen heilbar sind.
Keiner der drei Angegriffenen erstattet Anzeige. Allerdings handelt es sich bei den Taten, die Salis vorgeworfen werden, um Offizialdelikte.
Die deutsche Hammerbande
Laut Anklage bemerken Ilaria Salis und zwei ihrer Mitstreiter anderntags, dass sie von ungarischen Polizisten in Zivil beschattet werden. Eilig besteigen sie um 16.25 Uhr auf dem Batthyany-Platz im Zentrum von Budapest ein Taxi, das die Polizei kurz darauf stoppt. Die drei Aktivisten – neben Salis ein Paar aus Deutschland – werden verhaftet. Auf dem Rücksitz des Taxis finden die Beamten laut Anklageschrift einen Schlagstock.
Die ungarische Justiz wirft der italienischen Lehrerin, die antike Geschichte studiert und in Primarschulen sowie Gymnasien in Mailand und Como unterrichtet hat, neben schwerer Körperverletzung mit möglicher Todesfolge auch vor, Mitglied der deutschen Hammerbande zu sein. Die Gruppierung ist dafür bekannt, mit Hämmern und anderen Schlagwerkzeugen brutal auf Köpfe, Knie und Sprunggelenke von Neonazis einzuprügeln.
Allerdings schreibt «La Repubblica», es gebe laut italienischem Geheimdienst keinerlei Verbindungen zwischen den deutschen Linksextremen und der Italienerin. Auch bei Ermittlungen und Prozessen in Deutschland gegen die Hammerbande sei der Name Salis nie aufgetaucht.
Roberto Salis, der Vater der Angeklagten, sagte in italienischen Medien: «Wenn mir meine Tochter versichert, dass sie an den gewaltsamen Angriffen nicht selbst beteiligt war, glaube ich ihr das. Andernfalls ist es richtig, dass sie bestraft wird.» Was aber für ihn unerträglich sei, was ihm und seiner Frau Nächte bereite, in denen sie stundenlang wortlos an die Decke starren würden, sei die Unmenschlichkeit, mit der seine Tochter von den Ungarn behandelt werde. Der italienischen Regierung wirft der 58-jährige Mailänder Ingenieur vor, erst aktiv geworden zu sein, nachdem die demütigenden Bilder aus dem Gerichtssaal einen Aufschrei provoziert hätten.
Italiens Regierung stürzt der Fall Ilaria Salis in ein Dilemma. Eine Antifaschistin mit linker, wenn nicht linksextremer Vergangenheit, allein dies lässt Salis in den Augen der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, deren Partei ideologische Wurzeln im Neofaschismus hat, alles andere als bewundernswert erscheinen. Hinzu kommen die ideologische Geistesverwandtschaft und die persönliche Sympathie zwischen Meloni und Orban.
Einmal erwähnt die italienische Ministerpräsidentin in einer Pressekonferenz, auch in anderen europäischen Ländern würden Angeklagte angekettet vor ihre Richter geführt. Immerhin spricht sie Orban Ende Januar bei einem EU-Gipfeltreffen persönlich auf Salis an, während das italienische Aussenministerium Ungarn mehrmals dazu ermahnt, die Menschenwürde der Gefangenen sowie die Standards der Europäischen Union zu respektieren.
Roberto Salis vermutet dennoch, dass die Regierung eher unter öffentlichem Druck denn aus Überzeugung handelt. Einmal sagt er beim Verlassen des italienischen Justizministeriums gegenüber wartenden Journalisten: «Ich fühle mich getäuscht.» Was seiner Tochter in Ungarn widerfahre, sei Folter.
«Man soll ihr ruhig den Prozess machen»
Giorgia Melonis Koalitionspartner Matteo Salvini sagte kürzlich in einem Interview: «Es ist absurd, dass jemand wie Ilaria Salis Lehrerin ist. Wäre sie meine Tochter, würde ich mich alles andere als glücklich fühlen. Man soll ihr in Budapest ruhig den Prozess machen.»
Für Italiens Linke hingegen ist Ilaria Salis Märtyrerin und Opfer. Sie ist eine ideale Figur, um öffentlichen Druck auf Meloni auszuüben und deren ideologische Komplizenschaft mit dem Rechtspopulisten und bekennenden Illiberalen Viktor Orban anzuprangern. Elly Schlein, die Vorsitzende des linken Partito Democratico, antwortete Salvini mit den Worten: «Wenn Salis nicht Lehrerin sein darf, dann dürfen Sie schon gar nicht Minister sein» – in Anspielung darauf, dass der Lega-Chef im Unterschied zu Salis rechtskräftig verurteilt ist. 1999 hatte er den damaligen Premier Massimo D’Alema mit Eiern beworfen und dafür eine bedingte Haftstrafe von 30 Tagen erhalten.
Zum Vorwurf des ungarischen Aussenministers, niemand dürfe sich in ein Verfahren seines Landes einmischen, sagt Italiens Linke: dass ein amtierendes ungarisches Regierungsmitglied eine Beschuldigte öffentlich vorverurteile und deren Bestrafung fordere, zeige, wie verludert Ungarns Justiz und Rechtsstaat seien.
In einem ihrer jüngst publizierten Tagebucheinträge schreibt Salis: «Ich verstehe kaum, was um mich herum geschieht. Ich fühle mich lebendig begraben.» Zum zweiten Verhandlungstag ihres Prozesses ist der 28. März bestimmt. Wird sie schuldig gesprochen, drohen ihr mehr als zwanzig Jahre Gefängnis.
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