Marco Odermatt im Interview«Ich zitterte am ganzen Körper, das habe ich so noch nie erlebt»
Der Nidwaldner leidet und jubelt während der WM-Abfahrt wie nie zuvor. Er sagt, was er vom Vergleich mit Roger Federer hält – und was er anders machte als im Super-G.
Der Franzose Johan Clarey sagt, Sie seien der Roger Federer des Skisports: Was sagen Sie dazu?
Das sind sicher schöne Worte, auch wenn Roger vielleicht noch etwas mehr erreicht hat als ich. Aber wie für ihn ist es auch für mich wichtig, bescheiden zu sein, nicht gleich zu – ich sage einmal – töten für einen Sieg, sondern grossen Respekt für alle Athleten zu haben. Das war, was auch Roger im Tennis lebte.
Diese Einstellung ist vor allem im Duell mit Aleksander Kilde ersichtlich, der in der Abfahrt hinter Ihnen Zweiter wurde.
Er sagt auch, dass es toll ist, gegen mich um den Sieg zu kämpfen, dabei aber respektvoll zu sein, zu akzeptieren, wenn der andere schneller ist. Skifahren ist simpel, da geht es nur um die Zeit, die man braucht vom Start ins Ziel, wir müssen nicht gegeneinander boxen und haben keine Schiedsrichter, die etwas entscheiden. So können wir auch einfach respektieren, wenn der andere besser war.
Sie zeigten nach Ihrem Gold-Lauf Emotionen wie kaum je. Wie kam es dazu?
Als Aleksander ins Ziel kam, zitterte ich am ganzen Körper, das habe ich so noch nie erlebt. Bei ihm weiss man einfach nie, er ist der derzeit beste Abfahrer der Welt und hat auch heute wieder geliefert. Ich brauchte die perfekte Fahrt, um ihn zu schlagen, und diese gelang mir. Dennoch war ich sehr, sehr nervös während seiner Fahrt.
Marco Odermatt: Abfahrtsweltmeister. Wie klingt das?
Ich geniesse es richtig, es waren nicht die einfachsten Tage für mich im Vorfeld mit dem Super-G, der mir nicht perfekt gelang. Ich wusste zwar, dass auch in der Abfahrt etwas möglich ist, aber dass es so aufgeht, hatte ich nicht erwartet nach dieser Vorgeschichte und den Trainings, in denen mir einiges nicht gelang. Ich wusste, dass ich etwas anders machen und All-in gehen muss. Das ging auf, ich habe gewonnen, es ist unglaublich.
Spürten Sie schon während dem Rennen, dass das ein grosser Tag werden könnte für Sie?
Ich hatte vor allem im ersten, flachen Teil ein gutes Gefühl auf den Ski, ich fand den Speed, wusste aber auch, dass ich voll pushen muss, und das bis zum allerletzten Tor. Das war definitiv der beste Abfahrtslauf meines Lebens.
«Ich wüsste nicht, wo ich noch eine Hundertstel hätte schneller sein können, ich habe keinen Zentimeter verschenkt.»
War es die sogenannt perfekte Fahrt?
Gut möglich, dass es das beste Rennen von mir überhaupt war. Ich wüsste nicht, wo ich noch eine Hundertstel hätte schneller sein können, ich habe keinen Zentimeter verschenkt, das hat es heute gebraucht.
Nach dem Super-G sagten Sie, es hätten wohl ein paar Prozent Risiko gefehlt. Die haben Sie nun wieder draufgelegt.
Definitiv. Das war auch der grosse Unterschied zum Super-G. Ich wusste nach den schwierigen Trainings, dass es etwas Spezielles brauchen wird, sonst reicht es nicht für eine Medaille. Mit dieser Einstellung, All-in zu gehen, bin ich ans Rennen gegangen. Ich hatte mir erhofft, dass es aufgeht, erwartet aber hatte ich es nicht. In Cortina d’Ampezzo gewann ich zuletzt die beiden Super-G mit dem gleichen Einsatz, den ich im WM-Super-G zeigte, aber nun reichte es nicht für eine Medaille. Daraus zog ich meine Lehre. Aber natürlich kann ich nicht immer volles Risiko gehen, das habe ich in Kitzbühel gemerkt, als ich mir eine kleine Knieverletzung zuzog.
War es danach das erste Mal, dass Sie sich mit dem Thema Risiko beschäftigten?
Vielleicht, ja. Es ist ab und zu gut, wenn man mit einem blauen Auge davonkommt und etwas daraus lernen kann. Aleksander bewies es in Kitzbühel und ich in Cortina, dass wir nicht immer unser Leben riskieren müssen, um ein Rennen zu gewinnen. Mit dieser Einstellung ging ich an den Super-G, weil ich im Super-G der Kombination das Gefühl hatte, dass diejenigen schnell waren, die einfach sauber fuhren und nichts Spezielles machten. So bin ich gefahren. Dann wurde ich Vierter und fehlten die entscheidenden Hundertstel aufs Podest.
Sind Sie im Kopf freier, wenn Sie sich an eine Abfahrt machen statt an einen Super-G, in dem Sie immer der Topfavorit sind?
Die Favoritenrolle habe ich grundsätzlich zwar gerne, weil ich dann weiss, dass ich der Beste dieser Disziplin bin. Das macht es aber nicht immer einfach, weil ich dann eben noch eine gewisse Marge habe, und auch gewinnen kann, wenn ich diese einsetze. Zu wissen, nicht alles riskieren zu müssen für eine Medaille oder den Sieg, ist nicht einfach. Vielleicht startete Aleksander nun in die Abfahrt mit dieser Einstellung, weil er der Topfavorit war. Er wusste: Wenn alles normal läuft, holt er zu 99 Prozent Gold.
Sie sind Olympiasieger, Gesamtweltcupsieger, jetzt auch Weltmeister: Welche Ziele können Sie da noch haben?
In der Theorie habe ich vielleicht alles gewonnen. Nur: Wenn ich einmal gewinne, will ich das auch ein zweites Mal, das ist mein Motto.
Ist dieser Triumph zu vergleichen mit dem Olympiasieg im Riesenslalom von Peking?
Ich stelle ihn auf die gleiche Stufe, es war heute unglaublich emotional im Ziel. Die Gefühle nach der Zieleinfahrt, wenn es grün aufleuchtet, kenne ich mittlerweile. Aber danach das Rennen zu verfolgen, wenn noch einige kommen, die auch gewinnen könnten, so habe ich das noch nie erlebt. Am Morgen schaute ich mir ein paar Bilder und die Fahrt des Olympia-Riesenslaloms noch einmal an, um die Emotionen aufzutanken, das war ganz speziell.
Ihr Ausrüster Stöckli verschickte bald nach Ihrer Fahrt Weltmeister-Autogrammkarten, das muss vorbereitet gewesen sein. Wussten Sie davon?
Natürlich nicht – vielleicht war das auch besser. (lacht)
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