Sport als Therapie für die Psyche«Ich hatte endlich wieder mal ein kleines Erfolgserlebnis»
Rolf Huber ist psychisch krank. Physiotherapie bekommt er jedoch nur wegen seiner Covid-19 Erkrankung verschrieben. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass Bewegung der Psyche hilft.
Rolf Huber lebt mit starken Psychopharmaka, und das seit mehr als 15 Jahren. An ein Absetzen der Medikamente war nie zu denken. «Das letzte Mal habe ich das 2005 probiert», sagt Huber, «und bin schliesslich in der stationären Behandlung gelandet.» Doch in den letzten Monaten hat sich, für ihn selbst unerwartet, etwas verändert. Plötzlich ist da wieder ein bisschen Hoffnung.
Der 47-jährige Schweizer plant die Dosis seiner Medikamente in kleinen Schritten zu reduzieren. Ausgelöst hat diesen Wandel ein Bewegungstraining am Kantonsspital Winterthur. Dieses Trainingsprogramm hat Huber jedoch nicht wegen seines psychischen Leidens verschrieben bekommen, sondern weil er im Frühjahr 2020 schwer an Covid-19 erkrankte, ins Spital und dann in die ambulante Reha musste.
«In der Schweiz bekommen Menschen mit psychischen Leiden keine ambulanten Bewegungstherapien verschrieben», sagt Emanuel Brunner, Leiter des Studiengangs Physiotherapie an der Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen, «das halte ich für einen Fehler.» In einem Artikel im Fachmagazin «Swiss Medical Forum» fordert Brunner nun zusammen mit einigen Co-Autoren ein Umdenken. Bei psychischen Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen sollte es in der Schweiz zur gängigen Praxis werden, dass Betroffene auch im ambulanten Bereich Zugang zu körperlichem Training bekommen. Und das nicht nur, wenn sie zufällig auch ein körperliches Leiden haben.
«Wir sehen ein Riesenpotenzial»
Rund eine halbe Million Menschen sind in der Schweiz jährlich wegen psychischer Krankheiten in Behandlung. Depressionen und Angststörungen gehören zu den häufigsten Diagnosen. Psychische Leiden sind mit 6,9 Milliarden Franken pro Jahr bei den nicht übertragbaren Krankheiten auf Platz drei der teuersten Behandlungen. Wissenschaftlich ist längst erwiesen, dass Bewegung der Psyche hilft und bei der Behandlung zum Einsatz kommen kann.
«Dank der Physiotherapie hatte ich zum ersten Mal seit langem ein kleines Erfolgserlebnis und positive Gefühle in meinem Körper.»
In den psychiatrischen Kliniken gibt es deshalb auch Bewegungsprogramme, im ambulanten Bereich aber nur selten. «Wir sehen da ein Riesenpotenzial, doch bei der Umsetzung haben wir noch sehr viel Arbeit vor uns», sagt Renato Mattli, Gesundheitsökonom an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Denn Menschen mit Depressionen hätten häufig auch ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sport wirkt da vorbeugend.
«Dank der Physiotherapie hatte ich zum ersten Mal seit langem ein kleines Erfolgserlebnis und positive Gefühle in meinem Körper», sagt Rolf Huber. Er lebt in der Nähe von Winterthur und hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Vor mehr als 25 Jahren wurde bei ihm ein «Chronic Fatigue Syndrom» diagnostiziert, in der Folge erkrankte Huber an einer schweren Depression, bekam die Diagnose «bipolare Störung», war mehrmals in stationärer Behandlung und nimmt hoch dosierte Neuroleptika. Die Medikamente haben eine stark dämpfende Wirkung. Seinen Beruf als Elektromonteur musste er aufgeben.
Nach seiner Covid-Erkrankung bekam Huber Physiotherapie verschrieben, um die lädierte Lunge zu stärken. In der Physiotherapie fing er mit 300 Meter Gehen auf dem Laufband an. «Ich hatte Angst, dass das körperliche Training zu viel sein könnte für mich», sagt Huber. Doch es gelang seinem Physiotherapeuten, ihm die Angst zu nehmen. Aus 300 Metern wurde irgendwann ein Kilometer, den die beiden rund ums Spital abspulten. Seine Lunge hatte sich inzwischen wieder ganz erholt.
Im Laufe des Jahres steigerte Huber die Distanz bei Spaziergängen im Wald bis auf drei Kilometer. Nun hat er sogar begonnen, über kurze Distanzen zu joggen und zu sprinten. «Mein nächstes Ziel ist es, einen Kilometer zu joggen. Alleine hätte ich das nie geschafft», sagt er.
Antriebslosigkeit und Angst sind häufige Symptome bei Depressionen. Deshalb hilft ein gut gemeintes Mach-doch-mal-ein-bisschen-mehr-Sport den Betroffenen wenig. Vor allem um den Einstieg in Trainingsprogramme zu schaffen, brauchen sie Unterstützung. In anderen Ländern hat man das Potenzial der Bewegungstherapien bereits erkannt. In Finnland beispielsweise gibt es ein sogenanntes «Sport-Rezept», das Ärzte ausstellen können.
«In Meta-Analysen wurde gezeigt, dass die Symptomatik bei Depressionen mit Bewegungsinterventionen in ähnlichem Ausmass reduziert werden kann wie mit Medikamenten und Psychotherapie.»
«Betroffene möchten heute Behandlungsangebote, die wirksam sind und möglichst keine Nebenwirkungen haben», sagt auch Psychiater Thomas Ihde, Präsident von Pro Mente Sana. Nicht alle Menschen sprechen beispielsweise auf Antidepressiva an, rund einem Drittel der Betroffenen helfen sie nicht. «Wir brauchen mehr Studien zur Wirkung von Bewegung, geforscht wird leider fast ausschliesslich im Bereich der Psychopharmaka», sagt Ihde.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat vor einigen Monaten den Bericht einer ZHAW-Forschergruppe bekommen, in dem es um Bewegung als Therapie bei verschiedenen Krankheiten geht. Die Autorinnen schreiben darin im Abschnitt zu psychischen Leiden: «In Meta-Analysen wurde gezeigt, dass die Symptomatik bei Depressionen mit Bewegungsinterventionen in ähnlichem Ausmass reduziert werden kann wie mit Medikamenten und Psychotherapie.» Doch auch die Autorinnen kritisieren, dass es noch zu wenig Studien gäbe, wie man dieses Wissen in der Praxis umsetzen könnte.
Krankenkassen decken Bewegungstherapie nicht
Offen ist auch noch, wer in der Schweiz die entsprechenden Therapieangebote übernehmen könnte. Ausser den Physiotherapeuten kommen Sport- und Bewegungstherapeuten infrage, die bisher vor allem im stationären Bereich arbeiten. An der Universität Basel gibt es nun erste Versuche in diese Richtung.
Gesundheitswissenschaftler Markus Gerber arbeitet dort an einer Studie, wie man Bewegung in die Behandlung von psychisch Kranken besser integrieren könnte. «Ein Umdenken brauchen wir auch bei den Hausärzten und allen, die Medikamente oder Therapien verschreiben», sagt Gerber, der Professor ist am Department für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel. Bisher gehören Bewegungs- oder Physiotherapien wegen eines psychischen Leidens noch nicht zur Pflichtleistung der Krankenkassen.
Er habe von den Krankenkassen aber positive Signale bekommen, sagt Gerber, weil sie das Potenzial dieses Ansatzes erkannt hätten. An der Uni Basel läuft momentan der erste Jahrgang eines Ausbildungsganges für Health Coaches, die personalisierte Bewegungstherapien anbieten können. Der Lehrgang ist vom Erfahrungsmedizinischen Register zertifiziert. Das bietet die Möglichkeit, die Health Coaches über Zusatzversicherungen abzurechnen.
Hoffnung für Rolf Huber
Sport sei kein Allheilmittel, sagen die Experten, wäre jedoch eine wichtige Ergänzung der bestehenden Therapiemöglichkeiten. Weil es für manche Patienten der beste Zugang ist. So wie für Rolf Huber. Er war vor seiner Erkrankung ein begeisterter Sportler, machte Leichtathletik und war als Bauernsohn immer körperlich aktiv. «Es war für mich eine sehr harte Lektion, als ich irgendwann feststellen musste, mit dem Willen komme ich gegen die Krankheit nicht an», sagt er.
Zwar konnte er sich mit seiner Frau und den drei Kindern ein Leben aufbauen, in einem «kleinen Gärtli mit klaren Grenzen», wie er es beschreibt. Doch von den Ärzten, die ihm über die Jahre Medikamente verschrieben, fühlte er sich oft nicht ernst genommen und hatte nicht das Gefühl, ihnen vertrauen zu können. Ob ihm Bewegung guttun würde, hatte ihn nie jemand gefragt. Umso mehr ist er nun stolz darauf, was er in den letzten Monaten dank der Sporttherapie erreicht hat. «Vielleicht erleben meine Kinder mal noch einen Vater, der neben ihnen herjoggt.»
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