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Zermatt
Wie eine Katastrophe am Matterhorn zum Glücksfall für den Tourismus wurde

Am 14. Juli 1865 erreichte eine Seilschaft von sieben
Bergsteigern unter der Leitung des Englaenders Edward Whymper in einem Rennen gegen den Italiener Jean-Antoine Carrel als erste
den Gipfel. Beim Abstieg rutscht der junge, unerfahrene Bergsteiger Douglas Hadow aus und reisst 4 seiner Kameraden mit sich in
den Tod. Edward Whymper und die beiden Zermatter Bergführer Peter Taugwalder Vater und Sohn überleben dank eines Seilrisses. 

Erste bildliche Darstellung des Unglücks am Matterhorn von 1865, Reproduktion der Lithographie von Gustave Doré (1832-1883)
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In Kürze:
  • Alexander Seiler gründete 1853 das Hotel Monte Rosa in Zermatt.
  • Die Erstbesteigung des Matterhorns führte zu einer globalen Sensation.
  • Das Seiler-Imperium entwickelte Zermatt zu einer touristischen Destination.
  • Die Familie Seiler verlor langsam ihre Vorreiterrolle im Hotelgeschäft.

Aufgeregt unterbrachen die Gäste das Mittagessen an der Table d’hôte und stürmten vor das Hotel Monte Rosa in Zermatt. Auf dem Gipfelgrat des Matterhorns waren von blossem Auge die vier Bergsteiger aus England mit ihren Bergführern zu erkennen. Die Erstbesteigung war gelungen. In der Küche des Monte Rosa stellte Hotelier Alexander Seiler den Champagner kalt.

Dass kurz darauf am Hörnligrat eine kleine Lawine abzugehen schien, führten die bergkundigen Gäste auf das heisse Wetter an diesem 14. Juli 1865 zurück. Man kehrte euphorisiert zurück an den Mittagstisch. Als aber bis spätabends keiner der Erstbesteiger zurückkehrte, wich die Begeisterung zunehmend schlimmen Befürchtungen.

Erst gegen Mittag des folgenden Tags traf einer der Erstbesteiger, Edward Whymper, leichenblass beim Hotel ein. Dem tief besorgten Hotelier sagte er nur einen Satz: «Wir sind zurückgekommen, die beiden Taugwalder und ich …»

Alexander Seiler begriff sofort die Katastrophe, die sich abgespielt hatte: Bis auf Whymper, den Bergführer Peter Taugwalder und dessen Sohn waren alle Teilnehmer der Expedition auf dem Abstieg abgestürzt.

Das Goldene Zeitalter des Alpinismus

Auf den Bergtourismus in Zermatt wirkte sich die Katastrophe ganz anders aus, als der Patron des Hotels Monte Rosa befürchten musste: Der Triumph der Erstbesteigung und die Tragödie danach gingen in Sensationsmeldungen um die ganze Welt.

«Für Alexander Seiler waren die tragischen Ereignisse aus rein unternehmerischer Sicht ein Glücksfall», schreibt sein Urenkel Stephan Seiler in seinem neuen Buch über die Gründer der Hoteldynastie Seiler. Zermatt boomte in diesem Goldenen Zeitalter des Alpinismus. Alexander und seine Frau Catharina profitierten mit.

Alexander Seiler (Mitte) mit Hotelgästen

Ihre Hotels boten nicht nur Unterkunft, sondern auch die passende Logistik für Alpinisten und Touristinnen, die zunehmend aus der ganzen Welt nach Zermatt strömten. Die Seilers spielten damit eine Schlüsselrolle für die Entwicklung des Bergdorfs zur internationalen Tourismusdestination, die es heute noch ist.

Vom Seifensieder zum Hotelier

Alexander Seiler wurde 1820 in Blitzingen geboren, einem kleinen Dorf im Oberwallis. Er machte eine Lehre als Seifensieder und betrieb eine Seifen- und Kerzenproduktion. Das Unternehmen machte wenig Profit und viele Schulden – Alexander musste neue Wege gehen.

Durch seinen Bruder Joseph, der als Kaplan in Zermatt tätig war, wurde Alexander auf das abgelegene und mausarme Bergdorf aufmerksam. Joseph schlug ihm vor, dort ins Gastgewerbe einzusteigen.

Zusammen mit seiner späteren Frau Catharina übernahm Seiler 1853 die Pension des Wundarztes Joseph Lauber. Diese ärmliche Herberge war eine der ersten Unterkünfte für Touristen in Zermatt. Sie bauten das Haus um, vergrösserten es und eröffneten es unter dem Namen Monte Rosa, das als erstes richtiges Hotel in Zermatt gilt.

Geschäftssinn mit Weitsicht

Catharina stammte aus einer angesehenen Walliser Familie und brachte Unternehmergeist und kaufmännische Kenntnisse mit, die für das spätere Hotelimperium wertvoll sein sollten.

Sie brachten Gäste nach Zermatt, aber auch die Bahn oder elektrisches Licht: Catharina und Alexander Seiler bei ihrer Hochzeit 1857.

Die Seilers hatten einen Sinn für die Bedürfnisse ihrer internationalen Gäste. Nach dem Monte Rosa erwarben, pachteten oder eröffneten sie ein Gasthaus auf dem Riffelberg, das Hotel Mont Cervin, den Zermatterhof, das Grand Hotel Riffelalp und schliesslich noch weit weg von Zermatt, in Gletsch, die Hotels Glacier du Rhône und Belvédère. Alle statteten sie stetig mit dem Luxus aus, den die zahlkräftige Gästeschar erwartete.

Doch weitsichtig, wie sie waren, investierten die Seilers nicht allein in ihre eigenen Häuser, sondern auch in die Grundlagen der Tourismusentwicklung.

Alexander Seiler setzte sich früh für eine Bahnverbindung nach Zermatt ein. Die Visp-Zermatt-Bahn wurde 1891 fertiggestellt. Sie revolutionierte die Erreichbarkeit Zermatts, indem sie das Dorf ans internationale Bahnnetz anschloss und die Anfahrtszeit drastisch verkürzte.

Zermatt kurz vor dem Boom: Das Bergdorf mit den Hotels Monte Rosa und Mont Cervin als dominierende Bauten.

Zermatt wurde durch das Engagement der Seilers zudem die erste Berggemeinde im Wallis, die elektrisches Licht erhielt. 1892 trieb Catharina Seiler den Bau eines Wasserkraftwerks am Triftbach voran. 1898 waren bereits über tausend Glühlampen in den Seiler-Hotels installiert.

Tourismus als Entwicklungsmotor

Der Historiker Joseph Jung ordnet in seinem Vorwort zu Stephan Seilers Buch den Tourismus in den grösseren Kontext der wirtschaftlichen Transformation der Schweiz ein. Er beschreibt, wie sich die Eidgenossenschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Armenhaus zu einer wohlhabenden Industrie- und Dienstleistungsnation entwickelte.

Der rasante Aufschwung des Tourismus in dieser Zeit hing eng mit der politischen und wirtschaftlichen Modernisierung zusammen. Den Grundstein dafür legte die Bundesverfassung von 1848, die «das rückständige Land über Nacht zu einem der politisch fortschrittlichsten Staaten der Welt» machte.

Jung betont, dass es für diesen Aufschwung weit mehr brauchte als die Verfassung: «Ohne den Aufbruch ins Eisenbahnzeitalter ist auch das Tourismusland Schweiz nicht denkbar.» Der Bau der Eisenbahn in den 1850er-Jahren verkürzte die Reisezeiten. Darauf bauten die Initiativen von Privatunternehmern auf, auch diejenigen des Ehepaars Seiler.

Alexander Seiler erlebte den grossen Boom nicht mehr. Er starb 1891 im Alter von 71 Jahren. Nach seinem Tod übernahm Catharina die Leitung des damals grössten Hotelimperiums der Schweiz. Sie setzte die Expansion und Modernisierung fort, bis sie selbst 1895 verstarb.

Schleichender Niedergang des Seiler-Imperiums

Die Söhne führten die Geschäfte weiter​. Zunächst erfolgreich: Die Seiler-Hotels blieben über Jahrzehnte hinweg das Aushängeschild für Luxus und Gastfreundschaft in den Schweizer Alpen.

Die Nachfahren verstanden sich aber mehr als Bewahrer denn als Pioniere. So setzte der Stillstand und dann, schleichend, der Niedergang des Seiler-Imperiums ein. Der zentrale Einschnitt war 1961 der verheerende Brand des Grand Hotel Riffelalp, das als eines der prestigeträchtigsten Hotels der Familie galt.

Der Verlust des Vorzeigehauses schwächte die Seiler-Gruppe erheblich. Hinzu kamen der zunehmende Konkurrenzdruck in der Hotellerie und vor allem die veränderten Bedürfnisse der Tourismusgäste.

Der Verkauf der Hotels Glacier du Rhône und Belvédère im Jahr 1984 war ein weiterer Wendepunkt. Gegen den Verlust der Attraktivität durch den Schwund des Rhonegletschers hatten die Seilers kein Rezept.

Die ehemaligen Seiler-Hotels dominieren immer noch den Zermatter Dorfkern.

Aber noch blieben die Hotels in Zermatt in Familienbesitz. Ein Meilenstein war die Wiedereröffnung des Riffelalp-Hotels als luxuriöses Resort vierzig Jahre nach dem Brand. Möglich war das primär wegen Kapitalgebern von aussen. Die Nachfahren von Catharina und Alexander Seiler aber entfremdeten sich zunehmend von ihrem Erbe. Nach 170 Jahren gab 2022 der letzte Vertreter der fünften Generation die Leitung der Hotels ab.

Hommage an Hotelpioniere Seiler

Autor Stephan Seiler, Urenkel von Catharina und Alexander, war selbst Hotelier, betätigt sich heute aber als Kongressorganisator. Er schrieb sein Buch als Hommage an seine Urgrosseltern und an das beeindruckende Lebenswerk seiner Familie. Er stützt sich auf zahlreiche bisher unveröffentlichte Briefe, Gästebucheinträge und Bilder aus dem Nachlass der Familie Seiler und in den Hotelarchiven.

Entstanden ist ein Buch, das mit zahlreichen persönlichen Details und Anekdoten Catharina und Alexander Seiler als visionäre Vorreiter der Schweizer Hotellerie schildert. Die Darstellung ist zwar etwas detailverliebt, aber klug eingebettet in die helvetische Wirtschaftsgeschichte.

Man fragt sich bei der Lektüre unweigerlich, wer heute in der Schweiz noch – oder wieder – so viel Pioniergeist an den Tag legt wie die beiden.

Stephan Seiler: Alexander und Catharina Seiler. Von einfachen Herbergen zu stilvollen Grand Hotels in Zermatt und Gletsch. Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Band 122. 168 S., 33 Fr.

Präzisierung: Der «Zermatterhof» gehörte nie der Familie Seiler. Das Grand Hotel war von der Burgergemeinde Zermatt in Fronarbeit errichtet worden. Catharina und Alexander Seiler waren Pächter des Hauses.