Leitartikel zu HochschulprotestenEine Uni muss die Freiheit aller verteidigen
Sind politische Proteste an Universitäten legitim? Im Prinzip ja – doch bei den Aktionen von dieser Woche blieben wichtige Grundsätze ausser Acht.
Wer vor 20 Jahren sein Studium abschloss und heute wieder eine Uni besucht, erlebt viele Überraschungen. Man entdeckt geschlechtsneutrale Toiletten. In der Mensa gibt es vegane Menüs, die Überproduktion des Vortags wird nochmals zum Verzehr angeboten, und ein sogenanntes Menüleitsystem macht klar, welche direkte Auswirkungen die eigene Ernährung auf die Klimaerwärmung hat. Es gibt studentische Diskussionsforen für Liebe und Sexualität, Aktivistengruppen zur Beendigung des Klimawandels und Altruistentreffen mit dem nicht bescheidenen Ziel, die Probleme dieser Welt zu lösen.
Dass die «Alma Mater» keine statische Institution ist, sondern allen gehört und von den Studentinnen und Studenten zu jeder Zeit neu gedacht und belebt wird, daran hat sich nichts geändert. Ein Trend hat sich in den letzten Jahren verstärkt: der Trend, dass jede und jeder Einzelne sein Stück Freiheit einfordern kann und ausleben darf. Nur wenn der Einzelne frei ist und auch seine politische Meinung oder Lebenseinstellung frei äussern und ausleben kann, ist die Freiheit aller garantiert. Dieses Prinzip muss eine Universität heute garantieren.
Das entspricht dem politischen Zeitgeist, der die westliche Welt beherrscht. Daran ist nichts auszusetzen. Die Studentenproteste der letzten Tage in Lausanne, Genf und Zürich werfen nun aber neue Fragen auf: Wie politisch darf eine Universität sein? Ist es legitim, eine Universität für politische Zwecke einzuspannen oder sogar zu besetzen?
Ideologen mischen mit
Mit ihren Protestaktionen wollten die Studierenden national und international Aufmerksamkeit erregen und ein Zeichen gegen das israelische Vorgehen in Gaza und die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung setzen. Die Aktivistinnen und Aktivisten forderten die Unileitungen hauptsächlich dazu auf, sämtliche Beziehungen zu israelischen Universitäten zu beenden und die israelische Regierung zu einem Waffenstillstand zu bewegen.
Doch die Studierenden unterschätzten, dass der Einfluss einer Unileitung in der Schweiz auf weit entfernte Kriege sowohl politisch als auch diplomatisch gegen null tendiert. Und sie ignorierten das Grundprinzip der akademischen Freiheit: dass nämlich die Freiheit einer Universität darin besteht, mit anderen Universitäten Austausch zu pflegen, vorausgesetzt, Studierende und Professoren halten sich an die akademischen Werte und die geltende Rechtsordnung. Und sie schlugen ein Angebot der Universitätsleitung aus, die zu einem von zwei Professoren geleiteten Dialogforum eingeladen hatte. Stattdessen tauchten an der Universität plötzlich Personen auf, die von ausserhalb des universitären Milieus kamen und teilweise problematische, einander widersprechende Interessen vertraten. Personen vom Islamisten- bis zum Gewerkschaftsmilieu, zwischen denen in der Regel ideologische Welten liegen.
Die Idee, dass die Freiheit aller nur dann gegeben ist, wenn sich die oder der Einzelne frei äussern kann, war in Lausanne ramponiert. Die israelische Seite hatte keine Chance, ihre Sicht darzulegen. An der Uni Lausanne musste dies inzwischen auch das Rektorat eingestehen. Es betont in einer schriftlichen Stellungnahme, man verurteile «entschieden jede untolerierbare Äusserung, die den in der Charta der Universität Lausanne verankerten Werten zuwiderläuft». Untolerierbare Äusserungen wie «From the river to the sea Palestine will be free!», die Israel das Existenzrecht absprechen. Die Unileitung wollte tolerant sein und liess die Besetzer gewähren. Am Ende konnte sie aber nicht verhindern, dass die Universität von Interessengruppen für politische Zwecke missbraucht wurde. Zu den Klagen über die Unterdrückung der Palästinenser hätte zwingend eine Analyse über Täter- und Opferrollen sowie politische Lösungsansätze für ein friedliches Zusammenleben gehört.
Illusorische Forderungen
Die Besetzer legitimierten ihren Protest in den letzten Tagen mit dem Verweis auf die amerikanische Bürgerrechtsbewegung gegen die Diskriminierung von Afroamerikanern und die Anti-Vietnamkrieg-Proteste in den 1960er-Jahren, die hauptsächlich von Studierenden ausgingen. Der Vergleich überzeugt nicht. Die damaligen Proteste richteten sich direkt gegen Entscheide und Aktivitäten der eigenen Regierung und des US-Parlaments. Bei den Besetzungen von dieser Woche stellten Studentinnen und Studenten mit dem Rufen nach einem Waffenstillstand in Nahost nicht nur illusorische Forderungen. Sie suchten sich mit den Unirektoraten auch die völlig falschen Ansprechpartner aus, um sie dann auch noch maximal unter Druck zu setzen. Wenn überhaupt, hätten sie nach Bern vor die israelische Botschaft ziehen oder vor einem israelischen Konsulat campieren müssen. Das taten sie aber nicht. Und so sorgte ihr Protest an der Uni zwar für viel Aufsehen und Betrieb. Den Krieg jedoch wird er nicht verkürzen. Beschädigt hat er dafür den Ruf der Universitäten als Debattenforum.
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