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Warnung vor starkem Erdbeben
Hochrisikozone Istanbul: Was, wenn die Millionenmetropole bebt?

Viele Häuser in den Altstadtbezirken Istanbuls entsprechen nicht den Bauvorschriften zur Erdbebensicherheit.
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Als die Lehrerin Nese Demir eine neue Wohnung in Istanbul suchte, gab es eine Bedingung: «Das Gebäude sollte erdbebensicher sein.» Ihr Mann und sie entschieden sich für ein Haus, das nach 1999 gebaut worden ist. Denn 1999, und das wissen alle Istanbuler, die damals schon gelebt haben und in der Stadt waren, da hätte es sie alle treffen können.

Obwohl das Epizentrum des Bebens fast 100 Kilometer entfernt lag, in der Stadt Izmit, am Marmarameer. Fast 20’000 Tote gab es in der Region. Und in Istanbul, ganz in der Nähe des damaligen grossen Atatürk-Flughafens, stürzten auch ganze Wohnblocks in sich zusammen. Denn dort ist Schwemmland, unsicherer Boden, und die Bruchzone unter dem Meeresboden, die Nordanatolische Verwerfungszone, ist ganz nah.

Den Erdbebenrucksack stets in Griffnähe

Nach 1999 wurden die Bauvorschriften verschärft, weshalb Nese Demir jetzt in einem Elfstöcker auf der asiatischen Seite lebt, in dem sie sich einigermassen sicher fühlt. Aber nicht nur auf das Baujahr achten immer mehr Istanbuler, die sich einen Umzug leisten können, sondern auch auf den Untergrund. Es gibt Stadtviertel, die liegen auf Felsen, das ist besser bei Beben. Aber auch da gibt es Unterschiede, weil zum Beispiel in Galata oder Cihangir, in den alten Innenstadtvierteln auf der europäischen Seite, viele Häuser illegal aufgestockt wurden, um Dachterrassen mit weitem Blick übers Wasser zu schaffen. Das treibt die Immobilienpreise nach oben, aber auch das Risiko. Im Fall eines Bebens könnten die illegalen Zusatzstockwerke zu Hochrisikozonen werden, und durch die engen Altstadtgassen dürften es Feuerwehr und Rettungskräfte kaum schaffen.

Ein Erdbebenrucksack mit Wasserflasche, Energieriegel, Helm und Taschenlampe samt Batterien sollte in jedem Fall immer in Griffnähe stehen, am Bett am besten, so sagen es die Vorsorgehinweise. Bücherregale sollte man sichern, fest an der Wand verankern, damit man nicht darunter begraben wird.

«Im Alltag vergisst man das Risiko dann doch meist», sagt Demir. Aber in diesen Tagen kehrt die Urangst wieder, wenn die Nachrichtenprogramme im Fernsehen 24 Stunden lang die zusammengestürzten Neubauten im Südosten des Landes zeigen, aus denen sie immer wieder Eingeschlossene bergen, lebendig oder tot. (Alle News zum Beben in der Türkei
im Ticker)

Regierungsaufträge werden oft an Firmen vergeben, die sich freundlich gegenüber der Macht zeigen.

Sieben Tage Staatstrauer hat Präsident Recep Tayyip Erdogan verhängt und die Nation zur «Einheit» aufgerufen. Das soll wohl auch verhindern, dass zu viele Fragen gestellt werden. Etwa die, warum in dem riesigen Katastrophengebiet ausgerechnet so viele staatliche Gebäude zusammengestürzt sind. Zumindest die sollten doch gut gebaut sein? Krankenhäuser, Polizeistationen, Schulen. (Geologen erklären Erdbebenregion: «Es war nur eine Frage der Zeit.»)

Metropole auf zwei Kontinenten mit 16 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern: Blick auf das Bankenviertel in Istanbuls asiatischem Stadtteil. 

Es ist ein bekanntes Übel. Die Baubranche in der Türkei ist mächtig, da wird sehr viel Geld umgesetzt. Regierungsaufträge werden oft an Firmen vergeben, die sich freundlich gegenüber der Macht zeigen. Immer wieder aber wird bekannt, dass findige Bauherrn am wertvollen Sand für den Beton sparen oder mal eine Stütze weniger einbauen, eine andere herausnehmen, um noch einen Laden im Erdgeschoss unterzubringen. Das wird hochgefährlich, wenn die Erde bebt.

Das wussten sie in Istanbul schon vor Hunderten von Jahren. Sie benutzen daher heutzutage auch die ältesten Bauten, wie die Hagia Sophia, wie einen Seismografen. Dünne, gespannte Drähte zwischen den Mauern zeigen an, ob sich die Erde bewegt hat. Aber es gibt auch ein modernes Frühwarnsystem. Zwar kennen Wissenschaftler für Erdbeben noch keine zuverlässige Vorwarnung. Doch es gibt inzwischen ein Sensorsystem in Istanbul, das Erschütterungen möglichst rasch registriert. Es nutzt das Wissen über die unterschiedliche Laufzeit von Erdbebenwellen. Zwischen der Kompressionswelle oder Primärwelle mit kleiner Amplitude und der darauf folgenden zerstörerischen Scherwelle vergehen aber nur wenige Sekunden. Das jedoch reicht, um Strom- und Gasleitungen abzuschalten, Züge zu stoppen.

Nichts aber hilft gegen die menschliche Ignoranz. Immer wieder werden in Istanbul Karten mit den Sammelstellen für Notfälle veröffentlicht, und dazu die traurigen Hinweise, wie viele dieser Sammelplätze längst missbraucht sind, also bebaut oder anderweitig belegt. Mit mindestens 16 Millionen Einwohnern ist Istanbul, die Stadt auf zwei Kontinenten, die bevölkerungsreichste der Türkei. Sie ist der ökonomische Motor des Landes, verantwortlich für etwa die Hälfte der Wirtschaftsleistung.

Warnung vor dem grossen Beben

Internationale und türkische Experten erwarten einhellig für Istanbul schon seit Jahren ein grosses Beben etwa der Stärke 7,4. Aber wann das passiert, können sie nicht sagen. Es gibt die historischen Mythen, die sagen, auch der Bosporus sei durch ein Erdbeben in Vorzeiten entstanden. Europa und Asien seien hier auseinandergebrochen. Könnte man die beiden Küstenlinien der Meerenge ineinanderschieben, ergäben sie tatsächlich ein einheitliches Ganzes. Ein anderer Mythos sagt, dass die grösste Prinzeninsel bei einem schweren Erdbeben im Marmarameer versinkt. Dort sind die prächtigen alten Häuser aus Holz gebaut, sie halten Erdbewegungen gewöhnlich besser aus als schlechter Beton.

Als vergleichsweise sicher gelten in Istanbul die höchsten Bauten, die neuesten Wolkenkratzer, und die tief im Boden versenkte moderne U-Bahn. Gleiches soll für die Tunnel unter dem Bosporus gelten. Die Lehrerin Nese Demir nimmt die Bahn unter dem Wasser regelmässig, um auf die asiatische Seite zu ihrer Wohnung zu kommen. Sie fürchtet sich dabei gewöhnlich nicht.