Häusliche Gewalt«Es kostet enorm viel Kraft, sich aus einer gewalttätigen Beziehung zu befreien»
Kinder sind in der Schweiz nicht genügend geschützt, wenn Eltern gewalttätig sind. Selbst wenn Taten bekannt sind, sprechen Gerichte oft das geteilte Sorgerecht. Eine Mutter erzählt.
«Das Ausmass der psychischen Gewalt wird mir erst jetzt nach der Trennung von ihm bewusst», sagt Anna (alle Namen geändert). Sie trägt roten Lippenstift, ein buntes Kleid, die Haare hat sie sich aus dem Gesicht zu einem Pferdeschwanz gebunden. Anna und Ben waren zwanzig Jahre lang ein Paar, bis sich Anna wegen seiner psychischen Probleme und der psychischen Gewalt, die er auf sie und die Kinder ausübte, trennte.
Ben war ein engagierter und liebevoller Partner – dann kam das zweite Kind. Er begann, tagelang zu schweigen, Anna und die Kinder abzuwerten. «Zu Hause lag er nur noch auf dem Sofa, klagte über körperliche Beschwerden und kiffte. Ich ging permanent wie auf Eiern. Immer in der Angst, die Stimmung verschlechtere sich noch mehr. Auch die Kinder litten unter der angespannten Situation», schildert Anna die Lage.
Elterliche Gewalt bei etwa 27’000 Familien
In der Schweiz kommt es in etwa 27’000 Familien zu elterlicher Partnerschaftsgewalt. Zum Beispiel mit Festhalten, Schubsen oder Schlagen. Oder mit psychischer Gewaltausübung, etwa das Demütigen und Abwerten des Partners. Verbreitet sind auch sexualisierte und ökonomische Gewalt, wenn der Partner zum Beispiel den Lohn einzieht oder als Einziger Zugriff auf die Bankkonti hat. (Lesen Sie weiter: Gewalt an Kindern – wie Erziehung ohne Schimpfen funktionieren kann)
Die Kinder sind den gewalttätigen Auseinandersetzungen ihrer Eltern oftmals hilflos ausgeliefert, sie fühlen sich ohnmächtig, haben Angst und entwickeln Schuldgefühle, weil sie nicht helfen können und sich mitschuldig fühlen. «Dies kann die Kinder in ihrer Entwicklung nachhaltig beeinträchtigen», schreibt der Kinderschutz Schweiz.
Gemeinsame elterliche Sorge trotz Gewalt
Eine neue Studie im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) und der Schweizerischen Konferenz gegen Häusliche Gewalt (SKHG) kam zum Schluss: Kinder sind in der Schweiz nicht genügend vor Partnerschaftsgewalt geschützt. Zu oft wird bei Trennungs-, Eheschutz- und Scheidungsverfahren trotz Hinweisen auf Gewalt die gemeinsame elterliche Sorge ausgesprochen.
Dabei werden vor allem psychische Gewaltformen wie Drohungen oder das sogenannte Gaslighting, bei dem die Selbstwahrnehmung eines anderen Menschen durch Lügen, Verdrehungen oder Unterstellungen erschüttert wird, sehr oft als «normale» Konflikte abgetan. (Mehr dazu: Kinder und häusliche Gewalt – «Im Kopf kommt immer die Erinnerung, als Papa gesagt hat, er will Mami töten»)
Genau das erlebten Anna und ihre Kinder. Die Mutter sagt: «Wenn du keine Spuren am Körper zeigen kannst, gibt es wenig Hilfe, und wenn du welche gefunden hast, musst du lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Es kostet enorm viel Kraft, sich aus einer gewalttätigen Beziehung zu befreien.»
Vater beschimpfte die Kinder und verletzte sich selbst
In der Familie von Anna und Ben drehte sich alles um Bens angebliche Schmerzen. Anna vermutet heute, dass Bens Klagen psychosomatisch oder ein Machtmittel waren, die Ärztinnen schlossen körperliche Gründe aus. Die Kinder hatten Angst vor seinem gereizten und aggressiven Verhalten, Anna bekam Schlafstörungen, und während der Corona-Pandemie spitzte sich die Situation zu.
Die Kinder hatten Fernunterricht. Der Vater sei regelmässig laut geworden und habe die Töchter beschimpft, weil sie den Schulstoff nicht verstanden. In seiner Wut habe er auf Gegenstände eingeschlagen und sich selbst verletzt. Wenn sich Anna vor die Kinder stellte, schrie er «Fick dich, fahr ab».
Nach der Pandemie kam Ben in die psychiatrische Klinik. Dort äusserte die Psychiaterin im Einzelgespräch mit Anna das erste Mal den Verdacht, dass Ben eine «narzisstische Persönlichkeitsstörung» haben könnte. Die Zeit in der Klinik stellte sich jedoch als zu kurz für eine umfangreiche Abklärung und Diagnose heraus. So wurde Ben nach Hause entlassen ohne fixe Diagnose. Er ging zwar weiter in ambulante Therapie, dort brach er aber – typisch bei Narzissmus – ab.
Warum Anna die Beziehung nicht beendete? «Jedes Mal, wenn ich ihm sagte, unsere Beziehung sei nicht gesund, sagte er, ich sei zu fordernd, ich würde mir die Probleme einbilden. Natürlich begann ich an mir zu zweifeln. Und wir hatten ja auch immer wieder gute Phasen. Wie narzisstisch er ist und dass dieses Absprechen von Gefühlen Gaslighting ist, erkannte ich erst später.»
Schweizer Studie zeigt Mängel auf
Paula Krüger ist Professorin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern für Soziale Arbeit und die Studienleiterin zu Schutzmassnahmen für Kinder bei elterlicher Partnerschaftsgewalt. Sie sagt: «Es besteht in der Schweiz dringender Handlungsbedarf bei elterlicher Partnerschaftsgewalt. Insbesondere Ärztinnen, Lehrkräfte, Therapeutinnen und Richter müssten besser hinschauen, ob Gewalt ein Thema ist in Beziehungen von Paaren mit Kindern.» Schon beim geringsten Verdacht müsse die Situation genauer angeschaut werden, sagt die Wissenschaftlerin.
Sie appelliert vor allem an die Gerichte bei Scheidungen und Eheschutzverfahren. Ihre Studie ergab: Nur knapp 30 Prozent der Richter gaben an, bei Trennungsfällen systematisch nach elterlicher Partnerschaftsgewalt zu fragen. «Richterinnen und Richter tendieren in diesen Fällen zu oft zu einem gemeinsamen Sorgerecht und berücksichtigen dabei zu selten die Perspektive der betroffenen Kinder.»
In Annas Familie zeigten nun auch zunehmend die Kinder psychische Auffälligkeiten. Als die gemeinsame Tochter 12 Jahre alt war, begann sie sich selbst mit Ritzen zu verletzen und Suizidgedanken zu äussern. Die Jüngere hatte Schlafstörungen und zeigte Überängste. «Meine eigene Therapie war damals und bis heute meine Rettung. Ich bin froh, habe ich mir Hilfe gesucht, auch wenn Ben dagegen war und ich zeitweise heimlich ging», zieht Anna Bilanz, «so konnte ich mich nach fast zwanzig Jahren Partnerschaft endlich trennen.»
Kinder wollten nicht zum Vater
Sie zog mit den Kindern in eine eigene Wohnung und leitete ein Eheschutzverfahren ein, wozu ihr eine Beratungsstelle riet. Das Gericht hörte auch die Kinder an. Die Berichte sind klar: Die beiden Töchter erleben ihren Vater als aufbrausend, sie haben Angst und fühlen sich unwohl bei ihm. Beide sagen in der Anhörung, dass sie nur minimen Kontakt zu ihm möchten. Das Gericht beschliesst dennoch das gemeinsame Sorgerecht. Die Kinder leben seither 70 Prozent bei Anna und 30 Prozent beim Vater. Beide möchten weniger beim Vater sein.
«Einerseits ist es gut, dass der Kontakt zum Vater nicht ganz abbricht und ich Zeit habe, zu verarbeiten, was in den Jahren passiert ist», so Anna. Trotzdem sollte bei einer Trennung mehr berücksichtigt werden, wie die Verhältnisse zu Hause waren und wie die Kinder dazu stehen, findet die 40-Jährige. «Zwar haben mich die behandelnden Therapeutinnen und Psychiaterinnen über Bens psychische Krankheit gut aufgeklärt und beraten, den Weg zu konkreter Hilfe jedoch gehen Frauen sehr oft alleine. Dazu kommt die finanzielle Abhängigkeit, es braucht mehr Nothilfe für Mütter wie mich.»
Lässt sich der Wunsch der Kinder durchsetzen?
Paula Krüger sagt: «Die Fachpersonen brauchen mehr Wissen über die Auswirkungen von elterlicher Partnerschaftsgewalt auf die Kinder und die betroffenen Eltern, und es braucht eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Institutionen.» Dazu gehört, dass frühzeitig die Gewalt in den Familien erkannt wird und die elterliche Sorge und die Obhut in diesen Fällen gut abgewogen werden.
Im Auftrag der Schweizerischen Konferenz gegen Häusliche Gewalt (SKHG) aktualisiert Krüger mit ihrem Kollegen Beat Reichlin zurzeit einen Leitfaden zur Frage nach dem Kontakt zwischen dem Kind und dem gewaltausübenden Elternteil. Die SKHG biete Workshops an, in denen Fachpersonen Wissen zum Thema vermittelten und der Leitfaden vorgestellt werde.
Ben lässt Anna weiterhin nicht in Ruhe. Er belästigt sie mit Mails und SMS-Nachrichten und bezahlt auch den Unterhalt nicht immer vollständig und pünktlich. Anna ist nun in der Abklärung, ob sie die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) angehen muss, um den Wunsch der Kinder durchzusetzen, weniger beim Vater zu sein. Trotzdem geht es Anna und den Kindern seit der Trennung besser: «Es ist das Gefühl, an einem sicheren Ort zu sein, was uns stärkt. Und diese Zeit mit ihm jetzt hinter uns zu haben.»
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