Weg zur viralen RedeIn der Türkei hörte Habeck Sätze, die ihn entsetzen
Kanzlerambitionen? Druck auf Baerbock? In Robert Habecks Ansprache über Antisemitismus in Deutschland wird viel hineininterpretiert. Doch die Beweggründe für die emotionale Filmbotschaft sind andere.
Hätte es etwas geändert, wenn alles absehbar gewesen wäre? Dass das Video schon in den ersten Stunden millionenfach abgespielt werden würde? Dass CDU und «Bild»-Zeitung den Urheber feiern und ihm gar Kanzlerqualitäten attestieren würden? Dass auch interne Kritiker einräumen müssten, er habe Annalena Baerbock im internen Streit der Grünen um die Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl 2025 endgültig abgehängt? Dass landauf, landab ein Seufzer durch die Riege der Kommentatoren gehen würde, weil endlich jemand das politische Vakuum gefüllt habe, das der Emotionsallergiker Olaf Scholz und der sprachlose Frank-Walter Steinmeier nach den Terrortaten der Hamas und Israels Gegenschlag geschaffen hätten?
All das hat Robert Habeck so wohl nicht kommen sehen. Und wenn man glaubt, was in seinem Umfeld erzählt wird, dann haben derlei polittaktische Überlegungen auch keinerlei Rolle gespielt, als sich der Wirtschaftsminister und Vizekanzler entschloss, seine Gedanken zum Krieg in Nahost und zum öffentlichen Umgang damit in einem fast zehnminütigen Video zusammenzufassen.
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Der Grundgedanke, so heisst es in Ministeriumskreisen, sei gewesen: «Der Angriff auf Israel, die Ereignisse danach und der Antisemitismus, der sich sichtbar Bahn gebrochen hat, sind für Deutschland aufgrund seiner Geschichte erschütternd und bedürfen der Einordnung und der Klarheit.» (Lesen Sie hier unsere Analyse zum Thema.)
Habeck hat schon öfter per Video die Welt erklärt
Tatsächlich ist die Sache mit den Videos nicht neu, der Minister Habeck hat schon eine Reihe solcher Filme produziert, in denen er die Welt aus seiner Sicht erklärt. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine meldete er sich ebenso zu Wort wie etwa zum Heizungsgesetz. Die Botschaften sind für den gewieften Rhetoriker ein Instrument, komplexe Themen wohl durchdacht, in gesetzten Worten und ohne lästige Zwischenfragen im Zusammenhang zu erläutern. Auch zu den Gräueltaten der Hamas gab es vor drei Wochen schon ein Video.
Am vorvergangenen Sonntag trifft sich Habeck in Frankfurt mit Vertretern der jüdischen Gemeinde, die sich erschüttert zeigen – nicht nur über die Massaker der Hamas in Israel, sondern auch über die Kälte, das mangelnde Mitgefühl, ja, die offenen Anfeindungen, denen sich Juden in Teilen der westlichen Welt seither ausgesetzt sehen. Auch in Deutschland herrscht vielerorts Sprachlosigkeit, gerade Vertreter der politischen Mitte tun sich schwer mit einer scharfen Verurteilung von jeglicher Form des Antisemitismus, die zugleich Israels Mitverantwortung für den Nahostkonflikt nicht in Abrede stellt.
Tagelang wird am Manuskript gefeilt, denn klar ist: Jedes Wort muss sitzen.
Habeck beschliesst, ein zweites Video aufzunehmen, er selbst und seine engsten Mitarbeiter machen sich ans Werk. Am Mittwochabend reist der Minister zu einem lange geplanten Besuch in die Türkei. Auch hier lässt ihn das Thema nicht los – im Gegenteil: Entsetzt muss er feststellen, dass manche Gesprächspartner die Gräueltaten der Hamas herunterspielen oder aber kritisieren, dass in Deutschland propalästinensische Demonstrationen angeblich verboten seien.
Die Reise bestärkt Habeck in dem Gedanken, die Dinge geraderücken und grundsätzlich einordnen zu müssen. Tagelang wird am Manuskript gefeilt, denn klar ist: Jedes Wort muss sitzen, keinesfalls darf es so sein, dass am Ende ein einziger gedankenlos formulierter Halbsatz die Debatte dominiert.
Vom Teleprompter abgelesen
Am Mittwoch, fünf Tage nach der Rückkehr aus der Türkei, ist der Text fertig. Habeck stellt sich in seinem Büro auf, lässt die Kamera einschalten und liest vom Teleprompter ab. Kurz darauf ist das Video auf den Social-Media-Plattformen zu sehen. Auf die Idee, das Kanzleramt vorab zu informieren, kommt dem Vernehmen nach niemand, schliesslich war das auch bei bisherigen «Erklärvideos» nicht üblich. Auch dass Parteirivalin Baerbock am Abend ein deutlich schwierigerer Auftritt im ZDF bevorsteht, soll keine Rolle gespielt haben.
Es ist wohl wirklich so: Wäre das Video 5000-mal angeklickt worden, wäre es in der täglichen Bilderflut untergegangen und hätte keinerlei Kanzler- und Kandidatendebatten ausgelöst. Es wurde aber mehr als zehn Millionen Mal abgespielt.
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