Debatte zur KohäsionsmilliardeDas Parlament gibt Milliardenzahlung mit deutlicher Mehrheit an die EU frei
Die Räte debattierten über die Zahlung von 1,3 Milliarden Franken. Nach dem Ständerat hat auch der Nationalrat zugestimmt – nach heftigen Diskussionen. Der Liveticker zum Nachlesen.
Das Wichtigste in Kürze:
National- und Ständerat haben am Donnerstag über die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde beraten.
Der Ständerat hat am Morgen Ja gestimmt mit 30 zu 9.
Der Nationalrat debattierte am Abend – und gab die Zahlung mit 131 zu 55 Stimmen frei.
Das Parlament hat der Kohäsionsmilliarde eigentlich bereits 2019 zugestimmt, damals aber eine Bedingung für die Zahlung eingebaut. Diese wurde nun gestrichen.
Die Kohäsionsmilliarde umfasst 1,3 Milliarden Franken, die über zehn Jahre ausbezahlt werden sollen.
In einer ersten Stellungnahme begrüsst die EU-Kommission den Entscheid der Schweizer Räte, pocht aber auch auf einen verbindlichen Zahlungsmechanismus.
Zusammenfassung
Parlament gibt Kohäsionsmilliarde frei
Das Parlament wollte gegenüber der EU Stärke zeigen. Nun hat es die Kohäsionsmilliarde freigegeben.
National- und Ständerat glaubten, ein Druckmittel in der Hand zu haben, als sie 2019 über die zweite Kohäsionsmilliarde für die EU berieten. Sie stimmten im Grundsatz zu, bauten aber eine Bedingung ein: Die Gelder sollten erst dann fliessen, wenn die EU auf diskriminierende Massnahmen verzichtet.
Das hat die EU nicht getan. Sie verweigerte die Erneuerung eines Abkommens und schloss die Schweiz aus der Forschungszusammenarbeit aus. Trotzdem hat das Parlament nun die Bedingung gestrichen, und das mit deutlicher Mehrheit: Der Ständerat sprach sich am Donnerstag mit 30 zu 9 Stimmen für die Freigabe aus, der Nationalrat mit 131 zu 55 Stimmen bei 1 Enthaltung. Dagegen stimmten die SVP und einige Mitte-Vertreter.
Nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen hatte der Bundesrat eine rasche Freigabe beantragt, um die EU zu besänftigen. Aus deren Sicht ist die Zahlung nämlich längst fällig. Das Parlament hat zähneknirschend eingelenkt.
«Nicht weil wir müssen, sondern weil wir wollen»
Jene, die vor zwei Jahren für die Bedingung gestimmt hatten, versuchten, die Kehrtwende zu rechtfertigen. Der Marktzutritt funktioniere zu 99 Prozent, sagte etwa der Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser. Die Bedingung sollte gestrichen werden - «nicht weil wir müssen, sondern weil wir wollen».
Ein weiteres Argument lautete, mit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen habe sich die Situation verändert. Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde sei der erste Schritt für die nächste Phase. Es gelte nun, die Negativspirale zu durchbrechen.
Im Interesse der Schweiz
Viele Rednerinnen und Redner betonten, die Freigabe der Kohäsionsmilliarde sei im Interesse der Schweiz. Es gelte, weiteren Schaden zu vermeiden. Eine Erosion der bilateralen Beziehungen zur EU dürfe keine Option sein, sagte der Zürcher SP-Nationalrat Fabian Molina.
Die Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter stellte fest, es gebe keine Garantie, dass die EU die Forschungszusammenarbeit wieder aufnehme. Ohne die Freigabe der Gelder werde sie es aber sicher nicht tun.
Bestechung und Erpressung?
Die Gegnerinnen und Gegner argumentierten, die Schweiz dürfe jetzt nicht einknicken. Die Schikane aus Brüssel müsse aufhören, sagte SVP-Präsident Marco Chiesa. «Wenn ich höre, dass unser Land für die Teilnahme am europäischen Markt eine Zugangsprämie zahlen soll, die einer Bestechung gleichkommt, bin ich entsetzt.» Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde wäre ein Zeichen dafür, dass die Schweiz erpressbar sei.
Der Zürcher SVP-Nationalrat Roger Köppel verglich die EU mit einem Krokodil. «Wenn Sie glauben, das Krokodil besänftigen zu können, indem Sie es laufend füttern, werden Sie am Ende gefressen,» sagte er. Die Urner Mitte-Ständerätin Heidi Z’graggen fragte: «Wo ist der Stolz der Eidgenossenschaft als souveräner Staat? Wie lassen wir uns als Verhandlungspartner eigentlich behandeln?»
Keine Verknüpfung mit Erasmus
Die Linke hatte die Diskriminierungsklausel stets abgelehnt. Hingegen wollte sie eine Verknüpfung mit dem Studierendenprogramm «Erasmus plus» einbauen: Die Kohäsionsgelder sollten erst fliessen, wenn der Bundesrat die Finanzierungsbotschaft zur Teilnahme der Schweiz an «Erasmus plus» vorgelegt hat. Schliesslich verzichtete die Linke jedoch auf die Verknüpfung. Das Anliegen ist in eine Motion eingeflossen.
Die SVP beantragte ihrerseits erfolglos, dass die Kohäsionsmilliarde dem fakultativen Referendum unterstellt wird. Aussenminister Ignazio Cassis erinnerte daran, dass die gesetzliche Grundlage für die Kohäsionsmilliarde dem fakultativen Referendum unterstand. Damals wäre also eine Volksabstimmung möglich gewesen. Niemand hat jedoch das Referendum ergriffen.
Die Kohäsionsmilliarde umfasst 1,3 Milliarden Franken, die über zehn Jahre ausbezahlt werden sollen. Der grösste Teil ist für Projekte in Osteuropa vorgesehen. 200 Millionen sollen an Staaten gehen, die besonders von Migration betroffen sind.
Brüssel begrüsst bedingungslose Freigabe des Beitrags
Die EU-Kommission hat am Donnerstagabend den Entscheid des National- und Ständerates begrüsst, den zweiten Kohäsionsbeitrag bedingungslos freizugeben. Gleichzeitig pochte sie auf einen verbindlichen Zahlungs-Mechanismus für die Zukunft.
Damit das Geld des zweiten Kohäsionsbeitrags auch ausbezahlt werden könne, brauche es nun noch die Unterzeichnung eines Memorandum of Understanding zwischen der EU und der Schweiz.
Dies werde den Weg für die Auszahlungen, ohne weitere Verzögerungen, ebnen, um so die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den Regionen zu verringern sowie die Kooperation im Bereich Migration zu fördern, schreibt die EU-Kommission in einer kurzen Mitteilung.
Brüssel erinnerte jedoch auch daran, dass dieser Beitrag eine «natürliche, logische Gegenleistung für die Schweizer Teilnahme am wichtigsten Binnenmarkt der Welt» sei. Man dürfte nicht vergessen, dass die letzte Tranche des ersten Kohäsionsbeitrags 2012 ausbezahlt worden sei.
Für die Zukunft brauche man einen Mechanismus, der sicherstelle, dass die Schweiz einen finanziellen Beitrag leiste, der den Standards der EU und der EWR-Staaten entspreche, heisst es weiter.
Nationalrat gibt Kohäsionsmilliarde frei
Der Nationalrat tritt auf die Vorlage ein und lehnt einen Rückweisungsantrag ab. Auch der Antrag, die Vorlage dem fakultativen Referendum zu unterstellen, scheitert. Der Rat lehnt ihn mit 135 zu 53 Stimmen ab. Schliesslich gibt der Nationalrat die Kohäsionsmilliarde frei, mit 131 zu 55 Stimmen bei 1 Enthaltung.
Cassis hofft auf neue Dynamik
Nun hat Aussenminister Ignazio Cassis das Wort. Wie bereits im Ständerat erläutert er die Pläne des Bundesrates. Im Vordergrund steht ein politischer Dialog mit der EU. Einer der ersten Schritte sei jedoch die rasche Freigabe der Kohäsionsmilliarde, sagt Cassis. Wenn der Beitrag gesprochen werde, könne der Bundesrat vielleicht eine neue Dynamik auslösen. Eine Freigabe der Gelder sei zwar keine Garantie dafür, dass sich die Schweiz an der Forschungszusammenarbeit «Horizon» beteiligen könne. Ein Nein könnte aber zu weiteren Problemen führen, warnt Cassis. Der Bundesrat möchte rasch ein deutliches Zeichen an die EU senden. Cassis erinnert ferner daran, dass die gesetzliche Grundlage für die Kohäsionsmilliarde dem fakultativen Referendum unterstand. Damals wäre also eine Volksabstimmung möglich gewesen. Niemand hat jedoch das Referendum ergriffen.
«Wir sind der EU nichts schuldig»
Der Luzerner SVP-Nationalrat Franz Grüter erläutert die Position der SVP, welche die Freigabe der Kohäsionsmilliarde ablehnt. Es gehe nicht an, dass die Schweiz für den Marktzugang bezahlen müsse. «Wir sind ein Grosskunde der EU», sagt Grüter mit Verweis auf die Handelsbilanz. «Wir sind der EU nichts schuldig.» Bereits fordere die EU die nächste Milliarde. Ausserdem sei es eine Illusion zu glauben, die Zahlung der Kohäsionsmilliarde werde zum Ende der Diskriminierungen führen. Die Freigabe der Gelder wäre ein Kniefall. Im Minimum müsse die Bevölkerung darüber abstimmen können. Grüter beantragt, die Vorlage dem fakultativen Referendum zu unterstellen, das für Finanzvorlagen nicht vorgesehen ist.
Keine Alternative zum bilateralen Weg
Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (Basel-Landschaft) kritisiert das planlose Vorgehen des Bundesrates. «Eine Strategie ist nicht mal im Ansatz erkennbar», sagt sie. Nun brauche es zwingend einen Plan. «Was haben wir für eine Alternative zum bewährten bilateralen Weg?», fragt Schneider-Schneiter. Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde sei ein erster Schritt. Zwar gebe es keine Garantie, dass die EU die Forschungszusammenarbeit im Rahmen von «Horizon» dann wieder aufnehme. Ohne Freigabe werde sie es aber sicher nicht tun.
«Ungesunde Negativspirale»
Die Berner FDP-Nationalrätin Christa Markwalder spricht von einer ungesunden Negativspirale, die es zu durchbrechen gelte. Es liege auch im Interesse der Schweiz, dass sich die Ungleichheiten in Europa verringerten, gibt sie zu bedenken. Markwalder unterstreicht auch die Bedeutung der Forschungszusammenarbeit. Hier sei ein Schritt der EU zu erwarten.
Im Interesse der Schweiz
Für die Grünliberalen ruft der Luzerner Nationalrat Roland Fischer den Rat dazu auf, die Kohäsionsmilliarde freizugeben. Die Schweiz gehöre zu den Ländern, die am meisten vom europäischen Binnenmarkt profitierten, sagt er. Es sei deshalb richtig, dass die Schweiz einen Beitrag leiste. Die Schweiz habe ein starkes Interesse an der Zusammenarbeit.
Kohäsionsmilliarde als Ausdruck von Solidarität
Der Zürcher SP-Nationalrat Fabian Molina sieht die Kohäsionsmilliarde als Ausdruck von Solidarität in Europa. Es sei wichtig, dass sich die Schweiz an den gemeinsamen Bemühungen für ein gerechteres Europa beteilige. Nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen sei die Zahlung aber auch ein Beitrag zur Verbesserung der Beziehungen. Eine Erosion der bilateralen Beziehungen zur EU dürfe keine Option sein, sagt Molina. Mit der Zahlung müsse allerdings auch die Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung und Forschung verbessert werden. Die SP will jedoch – wie bereits im Ständerat – darauf verzichten, eine Klausel dazu in der Vorlage zu verankern. Auch an Molina gibt es einige Fragen aus der SVP-Fraktion.
«Ein Schuss ins eigene Knie»
Für die Fraktion der Grünen spricht die Basler Nationalrätin Sibel Arslan. Sie kritisiert, der Bundesrat habe immer noch keine europapolitische Strategie. «Die Schweizer Europapolitik gleicht einem Scherbenhaufen», sagt Arslan. Das Mittel für eine Deblockierung liege jedoch vor: die Freigabe der Kohäsionsmilliarde. «Die Blockierung des Kohäsionsbeitrages war ein Schuss ins eigene Knie», stellt Arslan fest. Die Beitragszahlung sei nichts anderes als die Erfüllung eines Versprechens, das die Schweiz gemacht habe.
Rückweisungsantrag
Der Genfer SVP-Nationalrat Yves Nidegger plädiert dafür, die Vorlage an den Bundesrat zurückzuweisen. Er argumentiert mit dem «Volkswillen».
Mahnung des Ratspräsidenten
Bei den anderen Fraktion stossen die Fragen aus der SVP an Roger Köppel auf Kritik. Der Ratspräsident mahnt zu kurzen Fragen und Antworten.
Plant die SVP einen Filibuster-Abend?
Aus der SVP-Fraktion gibt es weitere Fragen an Roger Köppel. Die Open-End-Sitzung könnte lange dauern.
Die Europäische Union als Krokodil
Nun hat der Zürcher SVP-Nationalrat Roger Köppel das Wort. «Die Europäische Union ist ein Verfahren zur Lösung von Problemen, die man alleine nicht hätte», sagt er. Dann zählt Köppel die Diskriminierungen der EU gegen die Schweiz auf. Wegen dieser «offenkundig erpresserischen Schwitzkastenmentalität» habe das Parlament die Auszahlung der Kohäsionsmilliarde verweigert. Er habe die Worte der FDP-Vertreter noch im Ohr, man zahle doch kein Geld an Erpresser, sagt Köppel. «Wenn Sie glauben, das Krokodil besänftigen zu können, indem Sie es laufend füttern, werden Sie am Ende gefressen,» sagt Köppel – und fügt an, er halte die EU nicht für ganz so gefährlich wie ein Krokodil. Doch die Schweiz dürfe sich nicht erpressen lassen. An Köppel gibt es Fragen aus der eigenen Fraktion, was im Rat für Unruhe sorgt.
Fragen gleich zu Beginn
SVP-Nationalrat Thomas Aeschi fragt Eric Nussbaumer, warum die Bedingung aufgehoben werden sollte, wo die EU doch sogar noch mehr Diskriminierungen gegen die Schweiz beschlossen habe. Nussbaumer antwortet, eine Seite müsse mit der Deeskalation beginnen. SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo stellt eine ähnliche Frage.
Die Debatte im Nationalrat beginnt
Nun beginnt die Debatte im Nationalrat. Die Kommissionssprecher, FDP-Nationalrat Laurent Wehrli und SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, erläutern das Geschäft und den Entscheid der Kommission. Der Rat hat eine Open-End-Sitzung eingeplant.
Zwischenbilanz nach dem Ständeratsentscheid
Von Bestechung und Erpressung war die Rede im Ständerat. Am Ende war das Resultat aber deutlich: Nein stimmten nur die SVP und wenige CVP-Vertreter. Die Mehrheit will die Kohäsionsmilliarde freigeben – trotz oder vielleicht gerade wegen der Nadelstiche aus der EU. Die Mehrheit war der Auffassung, eine weitere Blockade der Gelder, die aus Sicht der EU längst fällig sind, bringe nichts und sei auch nicht im Interesse der Schweiz.
Manche mag es Überwindung gekostet haben: Ganz ohne Gesichtsverlust kann das Parlament die Bedingung, die es vor zwei Jahren eingebaut hatte, nicht streichen. Der Versuch, gegenüber der EU die Muskeln spielen zu lassen, ist gescheitert. Doch die Angst vor weiteren negativen Konsequenzen scheint überwogen zu haben. Die Befürworterinnen und Befürworter hoffen ausserdem, dass die Freigabe der Kohäsionsmilliarde zumindest ein Einlenken der EU bei der Forschungszusammenarbeit bewirkt.
Bevor der Bundesrat zahlen kann, muss aber noch der Nationalrat zustimmen. Die grosse Kammer wird sich am Abend in einer Open-end-Debatte mit der Kohäsionsmilliarde befassen, voraussichtlich ab ca. 19.30 Uhr.
Ständerat gibt Kohäsionsmilliarde frei
Der Ständerat spricht sich mit 30 zu 9 Stimmen dafür aus, die Kohäsionsmilliarde freizugeben. Nun ist der Nationalrat am Zug. Er wird am Abend debattieren und entscheiden.
Was würden Sie stimmen?
Keine Verknüpfung mit Erasmus
Der Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga zieht den Antrag der Kommissionsminderheit zu «Erasmus plus» zurück. Das Anliegen sei in eine Motion eingeflossen, sagt er.
/Charlotte Walser
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