«Gewalttätige Männer müssen reden, reden, reden»
Martin Bachmann arbeitet mit Männern, die ihre Frauen und Kinder verprügeln. Er hilft ihnen, sich Rüstzeug für den Notfall anzueignen.
Bei der Zürcher Europaallee erschoss kürzlich ein Mann seine Noch-Ehefrau und danach sich selbst. In Stansstad brachte ein Rentner seine Gemahlin um. Und in Spreitenbach tötete ein Grossvater seine Partnerin und seinen Enkel. Das alles geschah innerhalb der ersten zwei Monate dieses Jahres.
Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz 10’040 Menschen Opfer von häuslicher Gewalt. Gemäss den Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik (hier als PDF) waren 76 Prozent der Beschuldigten Männer und 73 Prozent der Geschädigten Frauen. 45 Prozent der Vergewaltigungen ereigneten sich ebenfalls im häuslichen Bereich. 19 Menschen starben 2016 infolge häuslicher Gewalt, zu 95 Prozent waren Frauen die Opfer und 90 Prozent Männer die Täter.
Was läuft nur schief in diesen Familien? Was ist mit Männern los, die ihren Frauen und Kindern so etwas antun? Und können wir solche Taten mit der richtigen Erziehung verhindern? Ich sprach mit Martin Bachmann vom Mannebüro Zürich. Er berät seit bald 20 Jahren Männer, die gewalttätig wurden oder Angst haben, gewalttätig zu werden.
Die Zahlen zur häuslichen Gewalt sind unglaublich hoch und werden immer höher. Warum?
Ich glaube nicht, dass häusliche Gewalt zugenommen hat. Heute ist man aber sensibilisierter als früher und reagiert schneller mit einer Anzeige oder Meldung. Und das ist gut so. Zudem ist es so, dass unsere sich wandelnden Rollenbilder und Beziehungserwartungen den Kommunikationsbedarf erhöhen. Wir müssen mehr aushandeln.
Dennoch, die Zahlen sind hoch. Wann werden Männer zu Tätern und warum?
Ohnmachtssituationen sind für Männer bedrohlicher als für Frauen. Ich gehe in meiner Arbeit davon aus, dass hinter den allermeisten Fällen von häuslicher Gewalt Ohnmacht und Überforderung stehen. Die dummen Bilder von stereotyper Männlichkeit, vom echten Mann, der alles irgendwie in Ordnung bringen kann, lassen Männer nach wie vor Angst und Stress schlecht aushalten. Viele dieser Männer haben nicht gelernt, mit Gefühlen wie Wut und Angst umzugehen und diese mit Worten auszudrücken. Deshalb ist es so wichtig, dass Männer reden, reden und nochmals reden – auch über ihr Scheitern und ihre Niederlagen.
Und der erweiterte Suizid kürzlich in der Europaallee in Zürich?
Das ist ein Extrembeispiel. Da kamen sicher noch andere Faktoren dazu. Ohne Genaueres zu wissen, gehe ich in diesem Fall davon aus, dass der Mörder eine individuelle Disposition dazu hatte, die durch verschiedene destabilisierende Faktoren wie Jobverlust, Armut, soziale Isolation, Gesichtsverlust, eigene Gewaltgeschichte verstärkt wurde. Gott sei Dank sind solche Fälle selten.
Die meisten Taten von häuslicher Gewalt kommen in jungen Familien vor. Warum?
Bei jungen Familien schnappt oft die Traditionsfalle zu. Es gibt plötzlich eine starre Aufteilung der Erwerbs- und der Familienarbeit. Viele Männer kommen unter Druck, allein für das Familieneinkommen zu sorgen. Die Sexualität in der Beziehung verändert sich, Schlafmangel belastet die Nerven, die Orientierung an der Herkunftsfamilie wird wichtiger, die gegenseitige Abhängigkeit steigt enorm. Das ist für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung. Ins Mannebüro kommen deshalb sehr oft junge Familienväter. Sie sind gestresst, flippen bei Konflikten aus, schlagen die Kinder, die Frau, schmeissen mit Dingen um sich. Die Männer realisieren, dass sie sich helfen lassen müssen.
Wie können Sie einem Mann, der ein Gewaltproblem hat, helfen?
In einer Gewaltberatung machen wir mit ihm immer zuerst eine fundierte Standortbestimmung. So wird oft schon nach kurzer Zeit sichtbar, was als nächster Schritt für den Klienten und sein Umfeld sinnvoll sein könnte. Das kann etwa ein «Notfallnest» bei den Eltern sein, eine Paarberatung, ein Auffrischen alter Freundschaften und das Organisieren von mehr freier Zeit. Die betroffenen Männer und Paare brauchen meist mehr Luft: also keine Überstunden mehr, kein Wochenenddienst und regelmässig einen Abend mit Freunden verbringen – oder dann bewusst zu zweit. Der Mann kann so Perspektiven entwickeln und erste Wege aus der Ohnmacht finden.
Und das führt dazu, dass er nicht mehr zuschlägt?
Wir erarbeiten mit einem Klienten praxisnah und anhand konkret vorgefallener Ereignisse einen Notfallkoffer für Krisenzeiten. Er lernt so, innere Warnlampen und eine mögliche Eskalation zu erkennen und richtig zu deuten. Der Mann muss merken, wenn er zu drohen beginnt, Gewaltfantasien hat und sein Körper Stresssignale aussendet: Hoher Puls, schneller Atem, Bauchweh oder angespannte Muskeln gehören dazu. Diese Warnlampen zu spüren, sind die Grundlage für ein Notfallprogramm, für praktische Handlungsalternativen anstelle von Gewalt. Statt auszuflippen und zuzuschlagen, soll er hinausgehen, durchatmen und sich mindestens 30 Minuten Pause nehmen, um runterzukommen. Er soll dabei etwas tun, was ihm persönlich guttut, wie etwa spazieren gehen, im Wald rumschreien, einen Tee trinken, auf einen Boxsack einschlagen. Wir stärken also Männer in ihrer Selbstwahrnehmung und Handlungskompetenz in Krisen.
Werden auch Frauen zu Täterinnen?
Häusliche Gewalt kann von Frauen und Männern ausgehen. Einige Studien belegen glaubhaft, dass «leichtere» Fälle wie etwa eine Ohrfeige oder Wegstossen zu fast gleichen Teilen von beiden verübt werden.
Was können wir Eltern in der Erziehung präventiv tun?
Grundsätzlich finde ich es sehr wichtig, Buben und Mädchen zu sensibilisieren: für Rollenvielfalt, für Handlungsalternativen anstelle von Gewalt. Mädchen müssen lernen, selbstbewusst STOP zu sagen, sich nicht auf Männer einzulassen, die Gewalt ausüben. Jungen müssen lernen, selbstbewusst Hilfe zu holen und Gefühle auszudrücken.
Warum Rollenvielfalt?
Kinder, die vielseitige Männer- und Frauenrollen kennen lernen, sind öfter toleranter und fühlen sich weniger unter Druck, einem Idealbild zu entsprechen. Auch wichtig finde ich: lernen, mit Freunden und Bekannten über Stress in der Beziehung zu reden, darüber, wie wir Krisen bewältigen. Denn Gewalt wächst in der Einsamkeit und Not. Männer müssen mit Männern übers Mannsein reden. Es braucht Aufklärung, Sensibilisierung, Schulung, Hilfsangebote.
Dieser Artikel wurde erstmals am 10. April 2018 publiziert und am 12. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.