Schule und psychische Erkrankungen«Ich erzähle meine Geschichte, damit sich andere nicht allein fühlen»
Seelische Probleme bei Jungen häufen sich. Schulen müssen Support bieten, fordert Thilda Haylock (19) und sagt, was ihr half. Nun befasst sich die Politik mit ihren Anliegen.

Jung, talentiert und voller Elan. Die 19-jährige Thilda Haylock ist im Sommer mit der Schule fertig und möchte ein Gesangsstudium anfangen. Doch an diesem frühsommerlichen Tag spricht sie nicht über Musik, sondern über ihre Essstörung, die sie bereits mit 12 Jahren plagte.
«Ich erzähle meine Geschichte, damit sich andere nicht allein fühlen – denn das ist das Schlimmste», sagt Haylock. Vor zwei Jahren nahm sie an der Initiative «Verändere die Schweiz!» vom Dachverband Schweizer Jugendparlamente teil und reichte dort ein Anliegen ein zum Thema «Aufklärung über psychische Krankheiten an Schulen». Dieses wurde von SP-Nationalrätin Sarah Wyss ausgewählt.
«Psychische Gesundheit beschäftigt viele Jugendliche»
Im Vorfeld zu ihrem Besuch im Bundeshaus verschickte Haylock einen Fragebogen. «Es kamen 114 Antworten zurück, die mir zeigten: Das Thema psychische Gesundheit beschäftigt und betrifft sehr viele junge Menschen.» Zusammen mit anderen Jugendlichen und der Politikerin Sarah Wyss erarbeitete Haylock aus den Antworten und ihren eigenen Erfahrungen ein Postulat, das nun in der Sondersession des Parlaments behandelt wird. (Mehr dazu: Mentale Gesundheit der Gen Z – Wie Eltern von Jugendlichen in psychischer Not Hilfe finden)
Die Forderung an den Bundesrat: Er soll die aktuellen schweizweiten Massnahmen zur Aufklärung betreffend psychische Gesundheit an Schulen prüfen und aufzeigen, wie ein entsprechendes Sensibilisierungsprogramm unter Einbezug von Fachgesellschaften und Jugendlichen entwickelt werden könnte.
Zwischen 2020 und 2021 stieg die Zahl der stationären Spitalaufenthalte wegen psychischer Erkrankungen bei Mädchen und jungen Frauen im Alter von 10 bis 24 Jahren um 26 Prozent, bei gleichaltrigen Männern um 6 Prozent. Wie das Bundesamt für Statistik (BFS) schreibt, waren zum ersten Mal psychische Erkrankungen die häufigste Ursache für eine Hospitalisierung bei den 10- bis 24-Jährigen.
Auch die Kampagne «Wie geht es dir?» von GFS Bern aus dem Jahr 2022 zeigt: «56 Prozent der Jungen unter 25 Jahren bezeichnen sich als psychisch stark oder sehr stark belastet.»
70 Prozent mehr Beratung bei Pro Juventute
Anja Meier von der nationalen Kinder- und Jugendorganisation Pro Juventute begrüsst das Postulat im Nationalrat. Sie sagt: «In der heutigen von Krisen und Unsicherheiten geprägten Zeit sind Prävention und Unterstützung essenziell.»

Mit Aufklärungsprogrammen an Schulen könnten Kinder und Jugendliche im Sinne der Chancengerechtigkeit wirksam erreicht und zu einem adäquaten Umgang mit psychisch belasteten Gleichaltrigen befähigt werden. «Vermehrt kontaktieren uns auch junge Menschen, weil sie in ihrer Klasse oder in ihrem Freundeskreis eine Person haben, um die sie sich sorgen. Gleichzeitig sind sie überfordert und wissen nicht, wie sie damit umgehen und das Gespräch suchen sollen.»
Daher müssten Handlungskompetenzen in Bezug auf die psychische Gesundheit gestärkt und gefördert werden. «Prävention ist eine ganzheitliche gesellschaftliche Aufgabe, die möglichst viele Akteure miteinbeziehen muss.»
Gemäss Pro Juventute hat der Beratungsaufwand im Jahr 2023 im Vergleich zu 2019 um 70 Prozent zugenommen. «Inzwischen ist das Beratungsangebot 147 jeden Tag mit 8 bis 9 Kindern und Jugendlichen wegen Suizidgedanken in Kontakt», sagt Meier von Pro Juventute. Im Jahr 2019 seien es noch 3 bis 4 Beratungen pro Tag gewesen.
Die Zahlen seien also deutlich in die Höhe geschnellt. Im Jahr 2023 seien 166 Kriseninterventionen ausgelöst worden, weil sich ein junger Mensch etwas habe antun wollen. Das entspreche einer Krisenintervention alle 40 Stunden. Im Jahr 2020 seien es noch 96 Kriseninterventionen gewesen.
Helfen, ohne zu stressen
«Es ist mir wichtig, etwas gegen die Stigmatisierung und Hilflosigkeit gegenüber psychisch Erkrankten zu machen», sagt Thilda Haylock. Die Gymischülerin hat Forderungen. Zum Beispiel: mehr Wissen. In der Schule werde kaum darüber gesprochen, auch wenn in jeder Klasse mindestens eine psychisch erkrankte Person zu finden sei.
«Am meisten halfen mir jene, die es nicht als Tabuthema behandelten», sagt Haylock. Es sei ihrem Umfeld bewusst gewesen, dass sie eine Essstörung hatte, doch nur selten habe jemand direkt und ohne Vorurteil danach gefragt.
Dieses «Übersehen» habe zur Folge, dass sich Betroffene allein fühlten. «Wir brauchen mehr Wissen darüber, wie man mit Betroffenen umgeht, wie man ihnen hilft, ohne sie zu stressen oder blosszustellen.»
Bei einem Armbruch würden die Leute Grüsse auf den Gips schreiben, aber bei einer psychischen Erkrankung fehlten oftmals die Worte. «Nur weil etwas äusserlich unsichtbar ist, heisst es nicht, dass es nicht existiert und dass es nicht auch eine ernst zu nehmende Krankheit ist», sagt der Teenager. Aus diesem Grund sei es auch schwierig, Verständnis zu bekommen, da die Beschreibung der Symptome einer psychischen Erkrankung für Aussenstehende oft wie eine Übertreibung rüberkomme.
«Eine psychische Erkrankung ist nichts Peinliches»
Thilda Haylock ist gespannt, wie das Parlament mit dem Postulat umgeht. Sie sitzt in ihrem Zimmer in ihrem Elternhaus im zürcherischen Meilen und freut sich, im Sommer im nahen See schwimmen zu gehen. Ihre eigene Genesung begann, als sie anfing, sich vertieft mit dem Thema auseinanderzusetzen. «Ich lernte durch die Therapie, die Essstörung als Krankheit zu erkennen und von meinen eigenen Gedanken zu unterscheiden.» Im Laufe der Jahre habe sie auch viele andere Betroffene mit unterschiedlichen psychischen Erkrankungen kennen gelernt. «So konnte ich verstehen, dass ich nicht allein bin und dass eine psychische Erkrankung und deren Behandlung nichts Peinliches ist.»
Sie, die keiner politischen Partei angehört, sieht Handlungsbedarf. «Wenn die eigenen Freunde nicht einmal wissen, was sie einem sagen sollen, braucht es einen Weckruf.» Am besten an den Schulen, weil man dort am einfachsten alle Lehrpersonen, Jugendlichen und durch sie auch die Eltern erreichen könne.
Haylock würde auch selber in Schulen gehen, um darüber zu sprechen. Die nötigen Informationen von Betroffenen zu bekommen, sei vielleicht sogar der effektivste Weg, um sie zu vermitteln. «So können alle lernen, dass psychische Krankheiten – wie andere Krankheiten auch – die betroffenen Personen nicht ausmachen. Und es ist okay, darüber zu sprechen.»
Was ist mit der Verantwortung der Eltern?
Der Bundesrat lehnt das Anliegen allerdings ab. Es bestünden bereits verschiedene Angebote, deren Zielgruppe Kinder und Jugendliche, Eltern sowie Lehr- und Fachpersonen seien. «Andere Angebote sind in Ausarbeitung, die Tätigkeiten des Bundes sollen sich auf diese Arbeiten konzentrieren», so die Landesregierung. Ausserdem seien die Massnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit und zur Prävention vor psychischen Krankheiten Sache der Kantone.
Auch die SVP-Gesundheitspolitikerin und Nationalrätin Diana Gutjahr ist gegen den parlamentarischen Auftrag: «In der ganzen Diskussion fehlt mir immer öfter die Verantwortung der Eltern, stattdessen will man alles auf die Schulen und die Ausbildung abwälzen.»
Sie plädiert dafür, dass die Eltern sich mehr Zeit nehmen für ihre Kinder, diese «mehr mit Freunden im Freien spielen» lassen und dafür sorgten, dass sie weniger Zeit am Handy verbrächten. «Und wenn die Schulen sich wieder mehr um ihre Hauptaufgabe kümmern könnten, wären die Kinder vorbereitet auf die Ausbildung und würden dort nicht auch noch in ein Loch fallen», so die Parlamentarierin.
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