Jamie Oliver im Interview«Fettleibigkeit ist eine normale Reaktion auf ein abnormales Umfeld»
Der britische Starkoch und Bestsellerautor über den fatalen Zusammenhang zwischen Armut und Lebenserwartung, seinen Dauerkampf für gesundes Schulessen und die Kehrseiten des Ruhms.
Herr Oliver, Sie haben es von einer bescheidenen Herkunft zum Weltstar gebracht. Weshalb Sie?
Wenn du dich anstrengst und die richtigen Entscheidungen triffst, kannst du es nach ganz oben schaffen.
Mit Glück also?
Und harter Arbeit. Ich bin mir sicher, dass es noch andere Faktoren gibt, aber die Wahrheit ist doch, wenn man von da unten kommt, dann bleibt man in den meisten Fällen da unten, statistisch gesehen. Aber aufzusteigen ist nicht unmöglich, soziale Mobilität nennt man das. Ich finde, das Konzept der sozialen Mobilität ist das Wichtigste in jedem Land.
Wo lernt man den Willen, die eigenen Grenzen zu durchbrechen?
Wenn man hart arbeitet, ein guter Mensch ist, einen Beitrag leistet und in die Familie, die Gemeinde, die Strasse investiert, dann kann man über einen Zeitraum von 20 Jahren aufblühen, fliegen, wie auch immer man es nennen will. Diese Überzeugung ist in meiner Karriere und natürlich auch in meinen Kampagnen fest verwurzelt. Weil ich im Pub meiner Eltern aufgewachsen bin, wurde ich ein Experte für Menschen und Gemeinschaften. Nicht weil ich Wissenschaftler oder Arzt geworden bin, sondern weil ich Bier ausgeschenkt habe.
Aber ist soziale Ungleichheit nicht gerade in Grossbritannien ein grosses Problem?
Da ist schon was dran. Die Wohngegend, in der man aufwächst, bestimmt oft nicht nur das spätere Einkommen, sondern ebenso das Bildungsniveau. Und die Gesundheitsversorgung, die man bekommt, und damit Sterblichkeit und Tod. Wenn man in eine arme Gegend geht, sieht man doch grob gesagt zehnmal so häufig Werbung für Junkfood, und Imbissbuden gibt es überall. Fettleibigkeit ist eine normale Reaktion auf ein abnormales Umfeld. Und auf der anderen Seite der Gesellschaft sind die mit den Privilegien, mit höherem Bildungsniveau und eben höherer Lebenserwartung, das sind die Leute, die in der Regierung sitzen. Ich mag allerdings beide. Im Pub liebt man alle Arten von Menschen.
Gehen Sie überhaupt noch in ein Pub, bei Ihrer Prominenz?
Ich könnte das schon machen, aber wenn ich ins Pub gehe, dann benötige ich Sicherheitsleute. Nicht aus Angst, die meisten sind sehr freundlich zu mir. Aber wenn ich mit meiner Frau ausgehe, dann könnte ich den ganzen Abend nicht mit ihr reden, weil ich nicht unhöflich sein kann. Ich kann nicht sagen: «Bitte, lassen Sie uns in Ruhe», ich kann das einfach nicht. Also benötige ich Begleitung. Das ist eben der Preis, den man zahlt, wenn man bekannt ist. Mein Job ist manchmal seltsam.
Neben Ihren Kochbüchern und Restaurants stehen Sie vor allem mit Ihren Kampagnen für gesunde Ernährung für Kinder in der Öffentlichkeit. Was treibt Sie an?
Zu wissen, dass das, was ich da tue, letztlich von den meisten Menschen gewollt wird, ist das Wichtigste für mich. Und ich mache keine Kampagnen, wenn ich nicht weiss, dass ich zu 99 Prozent richtigliege – richtig, was die Fakten angeht, aber auch betreffend Moral, Recht und Ethik.
Wie meinen Sie dies?
Ich würde niemals meine Zeit damit verschwenden, etwas Umstrittenes zu tun. Es geht immer um grundlegende Dinge. Zum Beispiel: In Grossbritannien werden grob geschätzt fünfeinhalb Millionen Kinder jeden Tag, 180 Tage im Jahr, in Schulen mit Frühstück und Mittagessen versorgt. Das heisst, etwa die Hälfte der Ernährung dieser Kinder während ihrer gesamten Kindheit spielt sich in der Schule ab. Und haben wir dafür Standards oder Regeln? Nein. Wir haben Standards für Hundefutter, und wenn man sich nicht daran hält, wird man bestraft. Da denkt man doch: Aha, die Briten, sie mögen ihre Hunde mehr als ihre Kinder.
«Ich bin nicht von allein reich geworden, die Öffentlichkeit hat mich wohlhabend gemacht.»
Fürchten Sie nicht, dass Sie für manche jetzt der reiche, hippe Jamie Oliver sind, der den Leuten vorschreiben will, was sie essen sollen?
Ich bin nicht von allein reich geworden, die Öffentlichkeit hat mich wohlhabend gemacht. Und ich sehe mich in meinen Kampagnen als Diener der Öffentlichkeit. Für mich ist das eine sehr einfache, sehr saubere, sehr reine Beziehung. Ich mache diese Kampagnen ja nicht, weil ich Lust auf Streit habe. Im Gegenteil. Ich hasse das. Die Zeit nach dem Start von «School Dinners», das ist jetzt 18 Jahre her, waren die schlimmsten Monate meines Lebens.
Inwiefern?
Bei uns zu Hause wurde eingebrochen, Computer wurden gehackt, ich musste Hunderttausende Pfund ausgeben, um das alles zu reparieren. Ich habe einen Vollzeit-Sicherheitsdienst inklusive Wachhund, und das ist natürlich eigentlich unglaublich. Aber wenn du mit der Matrix spielst ...
Das klingt jetzt aber düster.
Kommen Sie, das ist doch nichts Überraschendes! Ich war damals eineinhalb Jahre lang das Arschloch, der Weltverbesserer, der Gutmensch, die Nervensäge. Als ich Chili con Carne auf meine Speisekarte gesetzt habe, haben die Leute sich aufgeregt, jetzt macht er Chili con Carne kaputt, Chili con Carne ist jetzt «posh» und so weiter. Come on! Chili con Carne ist niemals piekfein, ich habe nur darauf geachtet, dass das Fleisch eine gute Qualität hat.
Wie nahm denn das ein Ende?
Eines Tages brachte eine Zeitung eine positive Geschichte, und als die gedruckt wurde, waren auf einmal alle nett zu mir. Ich habe damals gelernt, wovon und von wem ich mich angegriffen fühlen sollte und wovon und von wem eher nicht. Das Einzige, was ich tun kann, ist, unerbittlich und ehrlich zu sein – und die Gesundheit der Kinder immer an erster Stelle zu setzen.
Wenn das alles Ihr Leben so beeinträchtigt, könnten Sie ja auch einfach weiter eine Menge Bücher verkaufen und das Leben geniessen.
Schon richtig, mit dem richtigen Timing, dem richtigen Ton und weil man gerade einen bestimmten Zeitgeist trifft, kann man ein paar Millionen Bücher verkaufen. Aber ich steuere auf 50 Millionen verkaufte Bücher zu. Das ist mehr als nur erfolgreich, das ist für mich ein sehr, sehr klares Votum. Es ist ja nicht so, dass ich ein verdammtes Genie wäre. Das Einzige, was ich vielleicht gut kann, ist zuhören. Und hartnäckig bleiben. Und ja, okay, ich bin jetzt berühmt.
Mögen Sie das Berühmtsein?
Ich würde niemandem raten, das anzustreben. Berühmt sein ist nicht gesund, weder für einen selbst noch für die Familie. Ich bin jetzt an einem Punkt, an dem für mich aus der Berühmtheit kein Weg mehr herausführt. Ich stecke fest in meiner Rolle. Und wenn das schon so ist, kann ich doch gleich dafür sorgen, dass es das wert ist. Dass ich das, was ich tue, gut mache. Irgendwann, wenn ich mal ins Gras beisse, hoffe ich, dass die Leute zurückblicken: Ja, stimmt, diese Sachen hat er doch schon immer gesagt, 40 Jahre lang, und trotzdem …
«Es wird mindestens mein Leben lang dauern, bis in der Gesellschaft die Gesundheit der Kinder an erster Stelle steht.»
... bleibt die Welt, wie sie ist?
Wir leben heute in einer Welt, in der es nur noch ein Ja oder Nein gibt, Sieg oder Niederlage, alles ist binär. Ich weiss nicht, ob sich das jemals ändert. Und was überhaupt dazu führen kann, dass sich etwas ändert, vielleicht die immer heftigeren Konsequenzen der globalen Erwärmung, vielleicht bricht unser Gesundheitssystem zusammen, vielleicht gibt es noch einen Krieg. Was ich aber weiss: Es wird mindestens mein Leben lang dauern, bis die Gesundheit der Kinder an erster Stelle steht.
Warum ist das so?
Wenn man sich die Regierungen in Grossbritannien der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre anschaut, stellt man fest: Keine Partei hat das Thema Kindergesundheit in ihrem Wahlprogramm auch nur erwähnt. Kommendes Jahr haben wir wieder eine Wahl, achten Sie doch mal darauf, wie wichtig das Thema sein wird. Dabei ist es so simpel! Wer sich früh gesund ernährt, ist körperlich und geistig fitter und hat auch in schlechten Gegenden bessere Chancen, nicht zur Bestätigung einer Statistik zu werden.
Sie sind wirklich verärgert.
Ach, es ist einfach so frustrierend, dass sich so wenig ändert. Dabei ist der Zusammenhang zwischen der Herkunft und der Ernährung doch offensichtlich. Es ist so wichtig, dass wir Kindern ein Bewusstsein dafür mitgeben. Und ich bin es einfach leid, höflich zu sein.
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