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Entführter ukrainischer Bürgermeister
Nun ist er wieder frei – und warnt, ohne Hilfe erreiche der Krieg bald die EU

«Mir war schnell klar, dass den russischen Besatzern ein einzelnes Leben egal ist»: Iwan Fjodorow.
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Es ist eine einfache Frage, die Iwan Fjodorow stellt. «Könnt ihr euch vorstellen, dass der Krieg zu euch kommt?», fragt er in einem Konferenzraum in Brüssel. Das Publikum schweigt irritiert, also wiederholt der junge Mann: «Könnt ihr euch vorstellen, dass der Krieg zu euch kommt?» Als im Publikum, das aus Journalisten und Mitarbeitern von Thinktanks besteht, einige den Kopf schütteln, sagt Fjodorow: «So ging es uns in der Ukraine auch, bis zum 24. Februar.»

Wenn die EU-Mitglieder der Ukraine nicht helfen würden, die russische Armee zu besiegen und Wladimir Putin zu stoppen, so Fjodorows Botschaft, werde der Krieg bald die EU erreichen. Welches Elend der Krieg bringt, weiss der 33-Jährige genau. Seit 2020 ist er Bürgermeister in Melitopol, und nachdem die russische Armee die Stadt im Süden der Ukraine besetzt hatte, wurde er mit einem Plastiksack über dem Kopf verschleppt und tagelang verhört. Später kam er in einem Gefangenenaustausch frei.

Vermummte Männer hatten Fjodorow im März entführt.

Weil ihn die Entführung weltweit bekannt machte und seine Stadt weiter besetzt ist, reist Fjodorow mit zwei ukrainischen Abgeordneten durch Europas Hauptstädte und wirbt um Hilfe für die Ukraine. In Rom luden sie Papst Franziskus nach Kiew ein, von Brüssel geht es über Den Haag nach Berlin.

Dort dürfte die Botschaft ähnlich sein wie vor dem Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments: «Die ukrainischen Familien denken nicht an Bequemlichkeit, sie denken an ihr Überleben. Das muss aufhören, und zwar so bald wie möglich und mit allen Möglichkeiten wie Sanktionen und Waffen.» Die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen, und die Zeit dränge. (Lesen Sie zum Thema auch die Artikel «Welche Waffen die Ukraine braucht» sowie «USA verstärken Unterstützung und trainieren Ukrainer an schweren Waffen».)

Fjodorow versucht, aus der Ferne zu helfen

Auf Einladung der slowakischen Denkfabrik Globsec schildern Fjodorow und die aus Charkiw stammende Abgeordnete Maria Mesenzewa, was sie in den ersten zwei Kriegsmonaten erlebt haben. «Mir war schnell klar, dass den russischen Besatzern ein einzelnes Leben egal ist», erinnert sich der Bürgermeister. Stets habe er damit gerechnet, dass er aus der Zelle geholt und umgebracht werden könnte. Ähnlich belastend sei es gewesen, weder mit seiner Familie noch mit seinen Mitarbeitern sprechen zu können.

Ihm wurde vorgeworfen, eine ukrainische rechtsextreme Organisation zu unterstützen. Nach vier Tagen kam er frei, doch zurück in seine Stadt kann er nicht. Von den 150’000 Menschen, die vor der Invasion in Melitopol lebten, seien noch 70’000 dort – aber Russland verweigere humanitäre Hilfe oder Evakuierungen. Fjodorow versucht, aus der Ferne zu helfen, und er ist stolz, dass die Bürgerinnen und Bürger seiner Stadt gegen die Besatzer protestierten.

«Sie essen Hunde- und Katzenfutter und trinken aus Kloschüsseln, um zu überleben.»

Maria Mesenzewa, Abgeordnete aus Charkiw

Die Soldaten, die ihn gefangen hielten, hätten ihm gesagt, sie müssten die Ukraine von Nazis säubern und dafür sorgen, dass die russischen Muttersprachler nicht schikaniert und unterdrückt werden. «Das ist doch absurd. Wir haben keine Nazis in der Ukraine, sondern Patrioten, und die Unterdrückung der russischen Sprache ist schlicht ein Märchen», sagt Fjodorow kopfschüttelnd. Er wirkt nicht verzweifelt, sondern ist voller Energie und darauf fokussiert, die Europäer aufzurütteln und seinem Land zu helfen.

Gleiches gilt für Maria Mesenzewa, die seit 2019 für die Partei von Präsident Wolodimir Selenski im Parlament in Kiew sitzt und ihren Wahlkreis in der Millionenstadt Charkiw nahe der russischen Grenze hat.

Obwohl 300’000 Menschen seit 2014 aus der Donbass-Region nach Charkiw geflohen seien und einige Verwandte dort gekämpft hätten und kämpfen würden, habe auch sie sich eine Invasion durch Russland nicht vorstellen können und sei nicht vorbereitet gewesen. Sie berichtet, dass das Haus ihrer Familie kürzlich von sechs russischen Geschossen getroffen worden sei, die ein Grad-Mehrfachraketenwerfer abgeschossen habe.

Routiniert spricht sie über die Waffen, die nun nötig seien. Schwere Artillerie sei besonders wichtig, etwa solche Mehrfachraketenwerfer. Die Abgeordnete dringt auf Tempo. Jeder Tag sei entscheidend – egal, ob es um die Lieferung von militärischem Gerät oder um Sanktionen geht. «Schön, dass ihr auf russisches Öl verzichtet, aber warum erst ab August?», fragt sie. Eindringlich schildert sie die Lage in Mariupol: «Die Zivilisten dort essen Hunde- und Katzenfutter und trinken aus Kloschüsseln, um zu überleben.» (Lesen Sie auch die Artikel «Die letzte Bastion in Mariupol» und «Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein».)

«Schön, dass ihr auf russisches Öl verzichtet, aber warum erst ab August?» Maria Mesenzewa – hier bei einem Augenschein in Butscha.

Mesenzewa spricht aus, wieso die Mitglieder von Nato und EU nun mehr schwere Waffen liefern: wegen der Bilder aus der ukrainischen Stadt Butscha, wo nach dem Abzug der russischen Armee ermordete Zivilisten gefunden wurden. Sie findet es gut, wenn die Politiker möglichst wenig über die Militärhilfe für ihr Land verraten – und lobt anschliessend Italien, das sich gerade sehr engagiere.

Im ukrainischen Parlament hätten sich Gruppen gebildet, die Kontakt zu einzelnen nationalen Parlamenten hielten. So will man gezielt Allianzen schmieden. Dass die Demokratie in ihrem Land funktioniere, ist Mesenzewa wichtig: «Wir kommen jede Woche in Kiew zusammen und stimmen ab, obwohl uns das zu einem Ziel der Russen macht.»

Stolz verweist sie darauf, dass Präsident Selenski dem EU-Botschafter in Kiew bereits den ersten ausgefüllten Teil des Fragebogens für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine übergeben hat. In der Präsidialadministration hofft man, dass die Ukraine Ende Juni beim regulären EU-Gipfel den Status des Beitrittskandidaten erhalten könnte. Das wäre ein symbolisch wichtiger Schritt für die Ukraine.

Weitere Strafmassnahmen gefordert

Mesenzewa betont, dass man in Kiew wisse, dass es bis zu einem EU-Beitritt ein «langer und holpriger Weg» sei, der viele Jahre dauern werde: «Wir wollen nicht morgen Mitglied sein, sondern alle Anforderungen erfüllen.» Auch dass jedes EU-Land ein Vetorecht hat, weiss man in Kiew.

All das ist ohnehin Zukunftsmusik, der Fokus liegt auf Selbstverteidigung und einer Schwächung Russlands. Was dafür noch helfen könne, erläutert die ukrainische Abgeordnete Olena Chomenko im Europaparlament. Sie fordert weitere Sanktionen gegen Weissrussland, da das Land weiter den russischen Angriffskrieg unterstütze. Und die EU-Mitglieder sollten noch mehr russische Diplomaten ausweisen. Am besten auch Botschafter, wie es etwa Litauen getan hat.

Und die EU sollte zusätzliche Unternehmer und Politiker aus Russland sowie deren Angehörige auf die Sanktionsliste setzen, weil diese «das Regime von Putin und seine Verbrechen» stützen würden. Gleiches sollte auch für Künstler oder Influencerinnen aus Russland gelten, wenn diese Desinformation über den Krieg verbreiten würden. (Lesen Sie zum Thema auch ein Interview mit dem ukrainischen Botschafter in der Schweiz: «Wir erwarten mehr von der Schweiz – in den Bereichen Finanzen, Energie, Banken».)