Geiseldrama in YverdonAuch die Polizei steht nun im Fokus der Justiz
Die Polizei hat den Mann erschossen, der Donnerstagnacht in Yverdon mit einer Axt und einem Messer Zugpassagiere bedrohte. Juristisch stellt sich die Frage, ob die eingesetzten Mittel verhältnismässig waren.
Für die Waadtländer Kantonspolizei ist der Einsatz beim Geiseldrama von Donnerstagabend in Yverdon erledigt. Sie verschickte dazu am Freitagabend eine Medienmitteilung: Die Polizei habe sich um den stehenden Zug herum formiert. Man habe den Zug gegen 22.15 Uhr gestürmt und alle Geiseln unversehrt befreien können. «Der Geiselnehmer wurde während des Einsatzes tödlich getroffen», heisst es weiter.
Juristisch beginnt die Aufarbeitung des Dramas erst. Der Waadtländer Generalstaatsanwalt und der diensthabende Staatsanwalt waren am Donnerstagabend beim Tatort. Sie müssen nun nicht nur mögliche Tatmotive des getöteten Geiselnehmers klären, sondern sich auch mit der Frage befassen, ob die tödliche Schussabgabe auf den 32-jährigen Asylsuchenden gerechtfertigt war. Wie in solchen Fällen üblich, hat die Staatsanwaltschaft auch ein Verfahren gegen die Einsatzkräfte eröffnet. Strafrechtlich stellt sich dabei stets dieselbe Frage: War der Schusswaffengebrauch verhältnissmässig?
Laut der Kantonspolizei Waadt habe einer der Polizisten zuerst versucht, den Täter mit einem Taser zu stoppen. Als dieser jedoch weiterhin mit erhobener Axt auf die Einsatzkräfte und die Zugpassagiere zugekommen sei, habe ein zweiter Polizist den Schuss abgefeuert.
Jede mit Yverdon vergleichbare Gewaltsituation müsse für sich analysiert werden, sagt ein erfahrener Ermittler und Strafrechtler. Es komme auf «sehr viele Details an». Natürlich sei die Polizei angehalten, möglichst jegliche Verletzung zu vermeiden und Täter lebend zu fassen. Doch wenn der Täter bewaffnet sei und wie in Yverdon auch noch 13 Menschen bedrohe, verenge sich der Spielraum. Ein eisernes Prinzip gebe es dennoch: «Der Gebrauch der Schusswaffe muss das letzte Mittel sein.»
Schüsse von Polizisten
Waadtländer Polizisten haben in den letzten Jahren in mehreren Fällen ihre Schusswaffen benutzt. Und zwar in Situationen, in denen sie alleine bewaffneten Männer gegenüberstanden. Juristisch hatte dies bislang keine Folgen. Es gibt aber ein hängiges Verfahren.
2021 erschossen Polizisten im Bahnhof von Morges auf einem Perron einen 37-jährigen dunkelhäutigen Mann aus dem Kanton Zürich, der sie mit einem Messer bedroht hatte. Bekannt wurde danach, dass die Polizisten dem Mann nach der Schussabgabe keine Hilfe leisteten. Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren gegen die Polizisten, das offiziell immer noch hängig ist. Angehörige des Opfers machten letztes Jahr bekannt, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen wolle – was dazu führen würde, dass es keine Anklage gäbe und der Fall nie vor ein Gericht käme.
In einem anderen Fall erschossen Waadtländer Polizisten 2016 einen dunkelhäutigen Mann, der im Treppenhaus seines Wohnhauses in Bex auf sie losgegangen war. Die Polizisten versuchten den Mann danach zu reanimieren, jedoch vergeblich. 2021 mussten sie sich für die Schussabgabe vor Gericht verantworten. Ein Strafgericht sprach die Polizisten frei und anerkannte, dass sie in Notwehr gehandelt hatten.
Schweizweite Zahlen der Konferenz der kantonalen Polizeikomanndantinnen und -kommandanten zeigen, dass die Polizei Schusswaffen nur selten einsetzt. Im Jahr 2021 wurde in sechs Fällen ein Schuss abgefeuert. 2010 waren es noch 29 Schussabgaben gewesen.
Geiseln in St. Galler Zug
Einen vergleichbaren Fall zur Geiselnahme der Zugpassagiere in Yverdon gab es 2016 im St. Galler Rheintal. Ein 27-jähriger Schweizer attackierte Passagiere in einem Zug mit einem Brandbeschleuniger und einem Messer. Der Mann tötete eine Frau, fünf weitere Passagiere wurden schwer verletzt. Später starb auch der Täter selbst, aber nicht infolge des Polizeieinsatzes, sondern wegen erlittener Brandverletzungen.
Wie geht die St. Galler Kantonspolizei im Fall einer Geiselnahme wie jener im St. Galler Rheintal taktisch vor? Ein Polizeisprecher wollte zu dieser Frage keine Stellung nehmen, weil man seine Aussagen auf den Fall in Yverdon beziehen könne, so sein Argument. Es gebe ein «Gentlemen's Agreement» zwischen den Polizeikorps, dass man sich nicht zu konkreten Fällen von anderen Polizeieinheiten äussere, betont der Sprecher.
Korrektur vom 9.2.2024, 17:50 Uhr: Die Polizei hat die Anzahl Geiseln in der neusten Mitteilung von 15 auf 13 korrigiert. Der Artikel wurde entsprechend angepasst.
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