Geiseldrama bei Yverdon«Wir hatten das Gefühl, in einem Horrorfilm zu sein»
Ein Mann nimmt in einem Schweizer Zug 13 Geiseln. Vier Stunden verhandelt die Polizei mit ihm. Dann folgen eine Schockgranate, ein Taser und ein tödlicher Schuss. Eine Rekonstruktion.
Die Schockgranate detoniert um 22.15 Uhr. Vom plötzlichen Knall aufgeschreckt und vom grellen Licht geblendet, lässt er seine Geiseln aus den Augen. Das Ablenkungsmanöver wirkt. Das ist der Moment, auf den die 60 Polizisten gewartet haben. Sie stürmen den Zug. Ein Polizist versucht, den Geiselnehmer mit einer Taser-Pistole zu stoppen. Weil das nicht gelingt, schiesst ein zweiter Polizist mit seiner Dienstwaffe auf ihn. Der Mann ist sofort tot. Ein Arzt kann ihn nicht mehr wiederbeleben.
So endet Donnerstagnacht das Geiseldrama an der Zughaltestelle in Essert-sous-Champvent, einer kleinen Ortschaft im Waadtländer Jura zwischen Yverdon und Baulmes. Zwölf Passagiere und der Lokführer können den Zug unverletzt verlassen. Vier Stunden waren sie von einem 32-jährigen Mann festgehalten und bedroht worden.
Alarm aus dem Zug
Die Geiselnahme begann kurz nach 18 Uhr. Passagiere sagen im Gespräch mit dieser Redaktion: «Der Mann wies uns während der Fahrt an, in den vorderen Wagen zu gehen. Wir wussten nicht, warum er das wollte, aber er schien gestresst zu sein.» Im Bahnhof von Essert-sous-Champvent trommelten die Passagiere schliesslich an die Kabinentür des Lokführers, der die Tür öffnete und rasch realisierte, was geschah. Der Geiselnehmer wies den Lokführer an, sämtliche Türen zu verriegeln.
Passagiere alarmierten ihre Familien und die Polizei. Die Waadtländer Kantonspolizei schickte ein Grossaufgebot samt Scharfschützen aus Genf nach Essert-sous-Champvent. Parallel eilten auch besorgte Angehörige der Passagiere herbei.
Vor Ort versuchte ein polizeilicher Vermittler, mit dem Entführer in Kontakt zu treten. Als klar war, dass der Mann Iraner war und neben Englisch auch Farsi sprach, wurde ein Dolmetscher aufgeboten. Es sei darum gegangen, den Geiselnehmer zu überzeugen, sich zu ergeben und die Passagiere und den Lokführer unversehrt freizulassen, sagt Polizeisprecher Jean-Christophe Sauterel. Man sei ständig mit ihm in Kontakt geblieben. Die Strafuntersuchung müsse nun zeigen, was bei diesem Austausch genau passiert sei.
Eine Passagierin sagt über den Geiselnehmer: «Er war ziemlich ruhig. Er hat Musik gehört und gegessen.» Der Mann habe gegenüber der Polizei gefordert, eine Frau zu sehen. Gemäss Polizeiangaben soll es sich um eine Mitarbeiterin eines Asylzentrums handeln.
Sein Benehmen hat sich gemäss der Passagierin verändert, als er realisierte, dass die Frau, die er sehen wollte, nicht kommen würde. Die Zeugin sagt: «Wir haben gespürt, dass seine Anspannung wuchs. Wir begannen seltsame Geräusche zu hören. Es hörte sich an, als würde er seine Axt schärfen, aber man konnte nicht wirklich sehen, was er tat, da er zum Teil von den Sitzen verdeckt wurde. Aber es gab einem das Gefühl, in einem Horrorfilm zu sein.»
Eine letzte Zigarette
Gegen 22 Uhr akzeptierte der Geiselnehmer das Angebot von Passagieren, gemeinsam eine Zigarette zu rauchen. Er soll seine Geiseln aber weiter nicht aus den Augen gelassen haben. Als er sich kurz vom vorderen in den hinteren Waggon begab, signalisierten die Passagiere dies der Polizei. Eine Passagierin sagt: «Plötzlich ging alles sehr schnell. Wir hörten draussen ‹Go, go, go!› und dann Hunde bellen. Es gab zwei Stichflammen, gefolgt von hellen Blitzen, dann barsten die Scheiben, und wir hörten Schüsse aus einer Pistole. Ich weiss nicht mehr, wie viele Schüsse es waren, aber es waren viele.»
Beim getöteten Geiselnehmer handelt es sich um einen 32-jährigen Iraner, der in der Schweiz um Asyl ersucht hat. Gemäss Polizeiangaben war er mit einer Axt, einem Hammer und einem Messer bewaffnet. Auf Videos, die Passagiere in den sozialen Netzwerken veröffentlichten und den Medien weitergaben, sieht man ihn mit dem Hammer durch den Zug laufen. Er trägt kurzes Haar, einen Dreitagebart, ein dunkelgrünes T-Shirt und helle Jeans.
Der Mann scheint seine Situation erklären zu wollen – in zusammenhanglosen Worten. Sein Wortschatz wirkt eingeschränkt, in sein Englisch mischt er Worte auf Farsi. «Ich gut. Demokratie nicht gut. Diese Leute nicht.» Weiter spricht er von einem «Problem mit Wegschicken» und sagt, er würde gern nach England gehen. «Ja, ich bin verrückt. Gut?», sagt er. Und: «Hier gibt es keine Arbeit.» Am Ende des kurzen Videos spricht er auch noch von der Ukraine. «Nicht Ukraine, zurück in die Schweiz.»
Abgewiesenes Asylgesuch
Was könnte sein Motiv für die Geiselnahme gewesen sein? Einen Terrorakt schloss die Polizei bereits kurz nach dem Ende ihrer Intervention aus. Mehrere Quellen bestätigen, dass das Asylgesuch des Iraners abgewiesen worden war. Gemäss ersten Erkenntnissen aus der Strafuntersuchung war der Mann mit dieser Situation unzufrieden. Die Untersuchung bestätigt auch, dass er durch seine Geiselnahme erzwingen wollte, mit der Mitarbeiterin eines Asylzentrums in Kontakt treten zu können.
Der Mann wirkt im Video verwirrt. Das wirft die Frage auf, ob er allenfalls an psychischen Problemen litt – und ob das im Asylprozess erkannt wurde. Flüchtlingsorganisationen weisen immer wieder darauf hin, dass viele Asylsuchende an psychischen Problemen leiden, weil sie im Herkunftsland oder auf der Flucht traumatische Erfahrungen machten. Oft bleiben die Probleme unerkannt und unbehandelt, was auch mit dem Mangel an Fachkräften zu tun hat.
Gemäss Recherchen dieser Redaktion ist der Mann im Jahr 2022 in die Schweiz gekommen. Nach Europa war er via Griechenland gelangt. Zunächst war er im Bundesasylzentrum in Boudry NE, dann wurde er dem Kanton Genf zugeteilt. 2023 wurde er in Grossbritannien aufgegriffen und in die Schweiz zurückgebracht. In Genf lebte er im Flüchtlingszentrum, das der Kanton für mehrere Hundert Personen auf dem Palexpo-Gelände, unmittelbar beim Flughafen, eingerichtet hat. Wegen seines auffälligen Verhaltens musste die Polizei mehrere Male eingreifen. Zuletzt soll er untergetaucht sein.
Wie gefährlich der Mann war und ob die Polizei beim Zugriff die ihr zur Verfügung stehenden Mittel – inklusive Schusswaffengebrauch – korrekt und verhältnismässig eingesetzt hat, muss nun die Staatsanwaltschaft klären.
Wie ein Betrunkener
Generalstaatsanwalt Eric Kaltenrieder und der diensthabende Staatsanwalt waren am Donnerstagabend vor Ort. Sie werden sich bei ihren Abklärungen unter anderem mit Zeugenaussagen beschäftigen müssen. Passagiere schätzten die Situation offenbar unterschiedlich ein – während manche den Eindruck hatten, dass vom Geiselnehmer Gefahr ausging, erlebten andere dieselbe Situation gelassener. Wie jener nicht namentlich genannte Passagier, der zu «Blick» Romandie sagte: «Als ich den Mann sah und ihn schreien hörte, dachte ich zunächst, es handle sich um einen Betrunkenen oder Drogensüchtigen.» Solche Leute sehe man regelmässig im Zug, und sie seien normalerweise ungefährlich. Obwohl der Mann eine Waffe gehabt habe, habe er nicht den Eindruck bekommen, «dass er Menschen verletzen» wollte.
Die Linie Yverdon–Sainte-Croix bedient ein privates Bahnunternehmen. Dessen Geschäftsführer lobte seinen Lokführer, «vorbildlich gehandelt» und dafür gesorgt zu haben, «im Austausch mit dem Geiselnehmer die Situation zu beruhigen».
Justizminister Jans bricht Ferien ab
Das Geiseldrama in der Waadt hat auch den neuen Justizminister Beat Jans aufgeschreckt. Jans entschloss sich kurzerhand dazu, seine Ferien in Mürren im Berner Oberland zu unterbrechen, um sich in Bern über die Vorgänge informieren zu lassen. Der Justizminister schrieb auf X (vormals Twitter), das ihm unterstellte Staatssekretariat für Migration (SEM) werde «mit den betroffenen Kantonen die Hintergründe dieses Falls aufarbeiten und mögliche Konsequenzen prüfen».
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Von iranischen Staatsangehörigen verzeichnete das SEM letztes Jahr bis Ende November rund 540 Asylgesuche. Die Schutzquote liegt bei 37 Prozent, mehr als die Hälfte der Asylsuchenden muss also zurückkehren. Der Iran stellt nur für Personen die nötigen Papiere aus, die sich zur freiwilligen Rückkehr bereit erklärt haben. Eine zwangsweise Rückführung ist laut dem SEM aber möglich, wenn ein iranischer Pass vorhanden ist.
Der Waadtländer Generalstaatsanwalt Kaltenrieder bezeichnete die Geiselnahme von Donnerstagnacht als «aussergewöhnliches, noch nie da gewesenes Ereignis». Einen vergleichbaren Fall gab es aber 2016 im St. Galler Rheintal. Ein 27-jähriger Schweizer überschüttete Passagiere in einem Zug mit einem Brandbeschleuniger und attackierte sie mit einem Messer. Der Mann tötete eine Frau. Fünf weitere Personen wurden schwer verletzt. Passagiere schafften den Täter aus dem Zug, worauf die Polizei ihn in ein Spital bringen liess. Später starb auch der Täter. Allerdings nicht infolge des Polizeieinsatzes, sondern wegen Brandverletzungen, die er sich im Zug zugezogen hatte.
In Essert-sous-Champvent wurden die Passagiere und der Lokführer nach ihrer Befreiung sofort vom psychologischen Notfallteam des Kantons Waadt betreut und danach in Bussen zum Polizeiposten in Yverdon gefahren. Dort wurden sie bis in die frühen Morgenstunden als Zeugen befragt.
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