TV-Kritik «Tatort»Gebrochene Flügel, blutige Gesichter
Der neue Kieler «Tatort» gibt einem #MeToo-Trauma Gestalt und starken jungen Schauspielern eine Bühne.
«Jetzt guck nach oben, weil ich flieg’ da», rappt Sero am Anfang von «Borowski und der Fluch der weissen Möwe» – zusammen mit Almila Bagriacik, die seit zwei Jahren als Mila Sahin in Kiel an der Seite von Axel Milbergs bärbeissigem Borowski ermittelt. Sero und Bagriacik waren in den Nullerjahren in Berlin auf die gleiche Oberschule gegangen, hätten sich aber nicht träumen lassen, dass sie dereinst in einem «Tatort» als Schauspieler zusammenarbeiten würden.
In der neuen Folge gings auch um jugendliche Träume – und Abstürze. Während eines Workshops an der Kieler Polizeischule, den Sahin leitet und Borowski supervisioniert, rastet eine der Schülerinnen aus und ersticht in einem Gewaltexzess vor aller Augen ihren Kumpel, der mit ihr eine Verhörsituation nachstellt. Wieso?
Darauf hat die Täterin Nasrin Erkmen keine Antwort. Die ehrgeizige Polizeischülerin mit Biss und Boxhobby gleitet während der Befragung immer wieder in eine andere Welt ab, hört Stimmen, zittert: Grossartig, wie Soma Pysall, Jahrgang 1995, die traumatisierte junge Frau gibt! Und stark, wie Regisseur Hüseyin Tabak ihre Flashbacks mit gruselig übereinander gelegten Tonspuren orchestriert.
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Mila Sahin sieht in der aggressiven Jungpolizistin ein Stück weit sich selbst und ihren Emanzipationsdrang und trommelt ihre eigene hilflose Wut auf den Boxsack. Borowski wiederum hat mit Selbstvorwürfen zu kämpfen; und mit seinen persönlichen patriarchalen Impulsen. Die Ermittler wühlen in der Kindheit der Polizeischülerin: Damals bedeutete der Kiosk des alleinerziehenden Vaters von Nasrins Freundin Jule für die Kids Heimat. Doch die Kommissare graben ein #MeToo-Trauma aus.
Knistern im Verhörraum
Die künstlerisch hochbegabte Jule mit dem selbstgenähten Möwenflügel-Top – die Möwenmetapher flattert vom ersten Funkruf ans Polizistenteam «Möwe 115» an eine Spur zu aufdringlich durch die Folge – ist allerdings gerade zugedröhnt und besoffen vom Dach gesprungen. Vor den Augen Nasrins und zweier weiterer Polizeischüler. Mit unzimperlichen Methoden versuchen die Ermittler, diese verdrängten Zusammenhänge aus Nasrin herauszuschocken.
Man stutzt: Es erscheint unglaubwürdig, dass eine offensichtlich psychotische Person ohne Beistand derart traktiert wird. Aber Eva Zahn, die das Drehbuch mit ihrem Partner Volker Zahn schrieb, erzählt: «Bei unseren Recherchen hat uns überrascht, dass es nach der Tat keinerlei psychologische Betreuung selbst für schwer erkrankte Täter wie Nasrin gibt.»
«Uns hat überrascht, dass es nach der Tat keinerlei psychologische Betreuung selbst für schwer erkrankte Täter wie Nasrin gibt.»
Erst im Rahmen des Prozesses komme es zu einer Begutachtung. Auch die anderen Betroffenen werden recht allein gelassen, etwa Nasrins Freund, ein Polizeischüler, der Jules Suizid und Nasrins Bluttat mitansehen musste (beeindruckend: der 24-jährige Enno Trebs). Das hat Folgen.
Regisseur Tabak erzählt diese Geschichten schwieriger und unmöglicher Aufstiege mit kraftvollem Fokus aufs Personal und ihre Körpersprache, sodass es selbst im kargen Verhörraum knistert. Geradezu grotesk riesenhaft gezeichnet wurden diese Dramen aus dem Deutschland der kleinen Leute, der diskriminierten Frauen, wo auch softe Männer schlechte Karten haben. In der Corona-geplagten Gegenwart wirkt der im letzten Sommer abgedrehte «Tatort» mit den vielen intensiven Körperkontakten ausserdem sehr fern. Fast wie ein wunderbar besetztes, böses, altes Märchen.
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