Geiselbefreiung in GazaHamas versteckt Geiseln in Wohnungen von Zivilisten
Israelische Spezialkräfte haben in einer Flüchtlingssiedlung vier Geiseln befreit. Palästinenser beklagen «ein Massaker an Zivilisten». Nun sind weitere Details bekannt geworden.
Es waren Bilder der Glückseligkeit, die aus Israel um die Welt gingen. Die Bilder zeigen, wie Noa Argamani nach acht Monaten Hamas-Geiselhaft ihren Vater umarmt. Die 26-jährige Frau war am Samstag bei einer Spezialaktion der israelischen Armee in Nuseirat in Zentralgaza aus den Fängen der Terroristen befreit worden. Gleichzeitig retteten die Israelis drei Männer im Alter von 21, 27 und 40 Jahren. Nach der Befreiungsaktion sind neue Einzelheiten bekannt geworden. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Das sind die vier Geiseln, die befreit wurden».)
Die vier Ex-Geiseln, am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival in Südisrael verschleppt, waren in zwei Wohngebäuden in der Flüchtlingssiedlung Nuseirat gefangen gehalten worden. Die Häuser im dicht besiedelten Gebiet befanden sich etwa 200 Meter voneinander entfernt. Um die Hamas-Wächter zu überraschen, drangen Israels Spezialkräfte um 11 Uhr Ortszeit zeitgleich in beide Gebäude ein. Der Sturm auf das Wohngebäude, in dem Noa Argamani gefangen gehalten worden war, soll reibungslos verlaufen sein. Die Hamas-Wächter seien rasch getötet worden, liess die israelische Armee verlauten.
Befreier und Geiseln geraten unter heftigen Beschuss
Schwieriger und gefährlicher sei die Befreiung der drei männlichen Geiseln gewesen. Denn es sei zu Schussgefechten gekommen. Dabei erlitt ein israelischer Offizier schwere Verletzungen, an denen er später erlag. Nach Darstellung der israelischen Armee gerieten ihre Spezialkräfte nach dem Einsatz in den Wohnhäusern unter heftigen Beschuss von Hamas-Terroristen.
Das Fahrzeug mit Befreiern und Geiseln sei im Chaos auf den Strassen stecken geblieben, worauf Verstärkung angefordert werden musste. Die Geiseln konnten schliesslich mit Helikoptern nach Israel geflogen werden. Wie viele Spezialkräfte an der Nuseirat-Aktion beteiligt waren, ist nicht bekannt.
Gemäss eigenen Angaben griffen die israelischen Streitkräfte (IDF) vom Boden, vom Meer her und aus der Luft «Gefahrenquellen» in Nuseirat an. Ziel sei es gewesen, dem Rettungsteam den Abzug aus der Gefechtszone zu ermöglichen. Israels Armee wies Vorwürfe zurück, wonach ihre Spezialkräfte getarnt in Fahrzeugen von humanitären Organisationen nach Nuseirat eingedrungen seien.
Die Befreiung der vier Geiseln in Nuseirat war die dritte erfolgreiche Rettungsaktion der israelischen Armee im nunmehr seit acht Monaten dauernden Gaza-Krieg. Erfolgsmeldungen gab es im November und im Februar: Damals wurden drei Geiseln befreit, auch sie sollen in Wohnhäusern gefangen gehalten worden sein. Bei der Februar-Aktion starben über 70 Palästinenser.
Helfen Zivilisten freiwillig der Hamas – oder für Geld?
Der Fall Nuseirat zeige, «dass die Hamas systematisch zivile Wohnhäuser nutzt, um Geiseln zu halten und zu verstecken», kommentierte die «Jerusalem Post». Und sie warf Fragen auf: «Warum stimmen Zivilisten zu, Geiseln in ihren Häusern gefangen zu halten? Ist es, weil sie der Hamas angehören, oder werden sie dafür bezahlt, oder gibt es eine andere Art von Absprache?» Das erinnere an Mafia-Netzwerke, die ihre Aktivitäten in zivile Umfelder einbetten. Dass die Hamas-Terroristen die eigene Bevölkerung und zivile Einrichtungen wie Spitäler und Schulen für ihre Zwecke missbrauchen, ist längst bekannt.
Die israelischen Streitkräfte (IDF) haben inzwischen einen Journalisten des TV-Senders al-Jazeera der Hamas-Komplizenschaft beschuldigt. Seiner Familie soll das Wohngebäude in Nuseirat gehören, in dem die drei männlichen Geiseln festgehalten worden waren. Der im Nahen Osten einflussreiche Newssender aus Katar dementierte umgehend und warf den IDF Lügen vor.
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Nach der Geiselbefreiung in Nuseirat drohte ein Hamas-Sprecher auf Telegram, dass das negative Auswirkungen auf das Leben der restlichen Geiseln haben könnte. Ausserdem gab er an, dass bei der israelischen Befreiungsoperation auch einige israelische Geiseln getötet worden seien. Ob das zutrifft, ist nicht bekannt, und es wird von Israels Behörden auch nicht kommentiert.
Noch 116 Geiseln, aber nicht mehr alle dürften leben
Nach israelischen Informationen werden weiterhin 116 Geiseln im Gazastreifen festgehalten. Von diesen sollen aber mehr als 40 bereits tot sein. Die Geiseln werden in Tunneln oder – wie in Nuseirat – in Wohnhäusern in dicht besiedelten Gebieten vermutet. Laut Medienberichten wird eine Gruppe von Geiseln in der Nähe von Hamas-Anführer Yahya Sinwar festgehalten – und als menschliche Schutzschilde missbraucht. Bewacher der Geiseln hätten die Anweisung, diese zu erschiessen, wenn sie von israelischen Soldaten überrascht würden.
Der Spezialeinsatz in Nuseirat sei mehrere Wochen lang vorbereitet worden, sagte der israelische Armeesprecher Peter Lerner. Er sprach von einer komplexen und auch riskanten Aktion der Spezialeinheiten. «Der Schlüsselfaktor war der Überraschungsangriff.» Im Training für ihren Befreiungseinsatz hatten die Israelis auch Modelle der Gebäude gebaut, in denen die Geiseln vermutet wurden, wie die «Washington Post» berichtete.
Bei der Befreiungsaktion sollen britische und amerikanische Geheimdienste wichtige Informationen geliefert und auch bei der Logistik geholfen haben. US-Überwachungsdrohnen, die seit dem 7. Oktober über dem Gazastreifen fliegen, seien in der Lage, mit Wärmebildkameras Hamas-Terroristen an Ein- und Ausgängen von Gebäuden zu erkennen, berichteten US-Medien. Die gesammelten Informationen seien oft bruchstückhaft, könnten aber Hinweise darauf geben, wann ein guter Zeitpunkt für einen Befreiungsversuch sei.
Entsetzen nach «Massaker an Zivilisten»
Neben den Bildern der Freude in Israel gingen am Wochenende auch Videos und Fotos von Tod und Zerstörung in Nuseirat um die Welt. In sozialen Medien kursierten Bilder von blutüberströmten Verletzten und Toten, unter ihnen auch Kinder. Zum Zeitpunkt der israelischen Befreiungsaktion am Samstagmittag sollen viele Menschen auf einem nahe gelegenen Markt gewesen sein. Die Toten und Verletzten wurden in die Spitäler al-Awda in Nuseirat und al-Aqsa in Deir al-Balah gebracht. Von fast 240 Opfern war bereits am Samstagabend die Rede.
Die Palästinenser werfen Israel ein Massaker an Zivilisten vor. Auch arabische Regierungen und Medien vertraten diese Sichtweise. Aus Europa meldete sich der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell zu Wort. Er begrüsste die Befreiung der Geiseln, äusserte sich aber gleichzeitig entsetzt angesichts der Berichte über ein «Massaker an Zivilisten». (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Angriff auf Schule in Gaza: Die meisten Opfer sind offenbar Frauen, Kinder und Jugendliche».)
Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden im Zuge der Geiselbefreiung in Nuseirat 274 Palästinenser getötet und rund 700 weitere verletzt. Israels Armeesprecher Daniel Hagari wiederum sprach von weniger als 100 Todesopfern. Er wisse nicht, «wie viele davon Terroristen sind».
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