Gäbe es hier diesen Kult, sie wäre ein Star
Alina Müller ist eine der besten Eishockeyspielerinnen. Ein Besuch in Boston, wo die Winterthurerin stürmt und studiert.
Die Partie ist zu Ende, die jubelnden Spielerinnen des siegreichen Heimteams stapfen auf den Gummimatten vom Eisfeld in die Garderobe, als plötzlich eine alle anderen scheinbar mühelos in hohem Tempo jauchzend überholt – an ihre pinken Kufenschoner hat sie in passender Farbe Räder von Rollerskates geschraubt.
«Sie ist speziell», sagt der laut lachende Goalietrainer neben der Kabine. Und fügt ernst an: «Wir sind so froh, hat sie sich für uns entschieden!» Sie, das ist Alina Müller, 21, aus Winterthur.
Ein Hauch von Nostalgie
Doch drehen wir die Zeit drei Stunden zurück, beginnen von vorne. Es ist Sonntagnachmittag, 13 Uhr. Wer bloss Spiele der nordamerikanischen Männer-Profiliga NHL kennt, merkt nach dem Eintritt ins Stadion schnell: Nein, das wird kein normaler Matchbesuch, hier ist vieles anders. Erfrischend anders.
Studentinnen händigen die reservierten Tickets aus, sie tragen, wie viele anderen jungen Menschen hier, Pullover mit dem überall präsenten Husky-Logo, dem Wappen der Northeastern University in Boston, zu der die 109-jährige Halle mittlerweile gehört. «Die Matthews Arena ist ein Begriff, die Leute kennen sie, unsere Gegnerinnen sagen immer wieder, wie gerne sie hier zum Spielen kommen», wird Alina Müller später erklären.
Die junge Schweizer Stürmerin wäre hier ein kleiner Star, wenn es denn jenen Kult gäbe wie in den Profiligen – sie ist mit Abstand beste Skorerin und auch eine der spektakulärsten Spielerinnen des Frauenteams. Im Match, der gleich folgt, wird stets etwas los sein, wenn die 1,65-Meter grosse Stürmerin übers Eis flitzt.
Bloss: Starkult ist hier fremd, hier wird NCAA-Hockey gespielt, das ist US-Universitätssport auf höchstem Level. Und im Vergleich zur grossen PR-Maschine der NHL weht hier ein wohltuender Hauch von Nostalgie und Eishockey-Tradition.
John F. Kennedy? The Doors? Hatten in dieser Halle ihren Auftritt.
Die Matthews Arena mag Renovierungen hinter sich haben, an vielen Orten sind die alten Gemäuer aber noch gut zu erkennen, und die Bilder an den Wänden dokumentieren Historisches, vor allem, aber nicht nur aus dem sportlichen Bereich.
Hier hielt JFK Reden wie schon andere US-Präsidenten vor ihm, nahmen The Doors ihr 1970er Album «Live in Boston» auf, drosch Muhammad Ali im Training auf Sandsäcke ein, spielten die Boston Celtics einst NBA-Basketball, schossen 1924 die Boston Bruins ihr erstes NHL-Tor in einem Heimspiel.
Ja, es ist gar die älteste, noch funktionstüchtige Eishalle der Welt, in der die Huskies, Müllers Team, ihre Heimpartien bestreiten dürfen.
Noch ist das Spiel nicht im Gang, die Huskies und ihre Gegnerinnen aus New Hampshire laufen sich ein, auf den 6000 Stühlen der Arena sitzen kreuz und quer verteilt rund 500 Schülerinnen, Eltern, Kollegen. Viel mehr werden nicht mehr dazustossen, voll ist die Halle nur, wenn das Männerteam spielt.
Der Rahmen ist aber derselbe, «das ist auf NCAA-Stufe Pflicht, alles muss für Frauen und Männer genau gleich sein», erklärt Müller. Auch die professionellen Trainingsbedingungen gehören dazu, vor allem darum ist sie hier und spielt nicht mehr in der Schweiz, wo sie bis 18 mit und gegen Buben spielte und danach in ihrem einzigen Jahr bei den Frauen in 23 Spielen 50 Tore schoss.
Und so herrscht nun auch trotz fast leer wirkender Halle Feststimmung. Denn die Lieder kommen hier nicht ab Band. Nein, es ist die Band, die hier für Musik sorgt und sich ebenfalls für den grossen Match warmspielt: es ist das knapp 50-köpfige Schulorchester.
Es erklingt eine laute Bläserversion von Billy Eilishs «Bad Guy», und nicht minder wuchtig dröhnt danach Totos «Africa» durch die Halle – es ist für alle Alterskategorien auf der Tribüne etwas dabei.
Die Video-Wand der New Jersey Devils landete hier
Und es soll jetzt keinesfalls der Eindruck erweckt werden, Nostalgie und Professionalität gingen hier nicht Hand in Hand. Der Videowürfel, eher eine Video-Wand, ist jener, den die New Jersey Devils bis 2017 hatten, bevor sie ein neues Ungetüm, den damals grössten Eishallen-Screen der Welt, in ihrer Halle hochzogen.
Die Qualität der Live-Übertragung darauf, das Gespür für die richtigen Replays, die witzigen Einblendungen – all das wäre auch im Schweizer Profi-Hockey Top.
Das Intro-Video der Huskies auf der ehemaligen Video-Wand der New Jersey Devils.
Und die Vielfalt und Tiefe der Statistiken, die auf den Medienplätzen vor dem Spiel und in jeder Pause mit Updates ausgehändigt werden, übertreffen jene der offiziellen Zahlen der National League problemlos.
Das Spielniveau ist beachtlich, das Tempo hoch, es sind hier zwei Teams am Werk, die offensiv agieren wollen. Herumtaktieren, unendliche, das Spiel verzögernde Querpässe der Verteidiger beim Aufbau gibt es nicht. «So wollen wir spielen», sagt Müller, die als Center der ersten Linie der Huskies eine Hauptrolle in allen Situationen hat.
Engagiert ist die Winterthurerin, einmal in Fahrt, ist sie für die Gegnerinnen kaum zu stoppen, sie kreiert in fast jedem Shift Torchancen für ihre Mitspielerinnen. Misslingt ihnen oder ihr selbst eine Aktion, ist der Ärger der Schweizerin augenblicklich anzusehen, ihre Spielfreude ist genauso ausgeprägt wie der Ehrgeiz.
«Ich arbeite daran, mich nicht so oft aufzuregen», gesteht Müller. Emotionen seien aber ein Teil ihres Spiel, sie sei Perfektionistin, wolle immer gewinnen. Auch darum zog Müller 2018 in die USA. Sie war zwar schon MVP und Topskorerin an Olympischen Spielen, sie erzielte 2014 in Sotschi das Schweizer Bronze-Tor.
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Alina Müllers Tor zum 1:0 letzten Dienstag beim Bostoner Stadt-Derby gegen die Eagles der Boston University. (Video: Northeastern University/Twitter)
Vorbildfunktion für Schweizer Mädchen
Mit 21 Jahren hat sie schon erstaunlich viel erreicht – sie wolle aber immer noch besser werden: Sie vergleiche sich mit den Allerbesten, wie der Kanadierin Marie-Philip Poulin: «Sie ist mein Vorbild, ich möchte alles können, was sie kann. Da sehe ich noch einen Riesenabstand.»
Und Alina Müller hat in den letzten Jahren gemerkt, dass sie von jungen Mädchen in ihrem Heimatland selber als Vorbild wahrgenommen wird: «Ich kann das Schweizer Frauenhockey vorwärtsbringen, das ist ein Privileg.»
Müller kennt die Hürden in der Schweiz, die Fortschritte erschweren: Die Liga mit zwei, drei krass dominierenden Teams und dem extremen Leistungsgefälle. Die schlechten Bedingungen, wenn es um Trainingsmöglichkeiten oder Entschädigungen für den Arbeitsausfall der allesamt als Amateure tätigen Spielerinnen geht.
Oder die Zufriedenheit vieler Spielerinnen, es bereits in die Nationalmannschaft zu schaffen, danach aber keine grösseren Ziele mehr zu haben.
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Das Spiel der Huskies gegen die Wildcats der New Hampshire Universität. Alina Müllers Team gewinnt 4:1, die Schweizerin mit der Nummer 11 ist an zwei Toren beteiligt. (Video: Northeastern University/YouTube)
Der unmögliche Mädchentraum
Müller ist aber auch Realistin. Sie weiss, dass sie ihren Mädchentraum, einst als Profispielerin von ihrer Leidenschaft zu leben, kaum je verwirklichen wird. Eine der grossen nordamerikanischen Ligen ging kürzlich bankrott, es kann sein, dass Müller in drei, vier Jahren, nach ihrem Studium, als Erwachsene nirgends auf höchstem Level spielen werden kann, weil schlicht die Plattform dazu fehlt.
Sie geniesse dafür die Privilegien, die sie gerade in Boston erhalte. Zum Beispiel das Vollstipendium für ihr Studium der Biopsychologie, das sie einst für einen Job in der Leistungsdiagnostik nützen könnte. Die Fragen, wie die Gene das menschliche Verhalten beeinflussen, generell der menschliche Körper und all seine biologischen Mechanismen – all das interessiert die junge Schweizerin.
Nebst dem Studium bleibt vorerst aber Eishockey Trumpf. Dieser Sonntagnachmittag ist ein besonderer für die Huskies und Müller. Es ist nach vier Auswärtspartien und vier Siegen das erste Heimspiel der Saison, der Banner für den Gewinn der regionalen Meisterschaft in der Vorsaison wird vor dem Spiel hochgezogen, es sind besonders viele Väter, Mütter und Kolleginnen gekommen.
Auch Müllers Eltern sind hier, sie kamen direkt aus Newark, wo Sohn Mirco NHL-Verteidiger bei den New Jersey Devils ist. Auch wenn sie es so nicht wörtlich ausspricht: Der Stolz Alinas auf den drei Jahre älteren Bruder ist immens, das ist in jedem Satz über ihn zu spüren.
Der Banner für den regionalen Titelgewinn der Huskies aus der Vorsaison wird hochgezogen.
«Ich schaue jedes Spiel von ihm – weil er mein Bruder ist. Und auch wenn Frauen- und Männerhockey wie zwei verschiedene Sportarten sind: Ich kann sehr viel von Mirco lernen», sagt Alina.
Unterschiedlich sind auch Regeln, Spielweise und Auftreten. Bei den Frauen sind Bodychecks verboten, und es gibt kaum Provokateure – ein Spieler wie Brad Marchand, der für Bostons NHL-Team die Gegner reihenweise auf alle möglichen und unmöglichen Arten belästigt? Unvorstellbar. «Nein, bei uns gibt es keine Goons oder Trashtalk», sagt Müller lachend.
Alle kennen alle
Freundlich und gesellig geht es auch nach der Partie zu und her. In den Gängen mischen sich Eltern und Kollegen, während sie auf die Spielerinnen warten. Sowas sei normal, sagt Müller: «In den USA sind die Leute allgemein sehr offen, und wir haben es im Team besonders gut miteinander, alle kennen auch die Familien der anderen.»
Dazu passt auch, wie der Tag ausklingt. Es geht in Gruppen weiter in die Stadt, auch die Müllers brechen auf: Abgemacht ist ein gemeinsames Abendessen mit den Familien dreier Teamkolleginnen, auch ein Grossvater ist extra hergereist, spätestens jetzt dreht sich nicht mehr alles um Eishockey.
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«Eisbrecher», der Hockey-Podcast von Tamedia
Im Rahmen dieses Artikels ist der 6. Teil des Tamedia-Eishockey-Podcasts «Eisbrecher» entstanden. Das ganze Gespräch mit Alina Müller in Boston, aufgenommen in der historischen Matthews Arena, kann hier nachgehört werden:
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Interesse an zwei weiteren Podcast-Folgen von «Eisbrecher» aus den USA? Hier nachzuhören ist Episode 5 mit Carolina-Hurricanes-Stürmer Nino Niederreiter:
Und hier Episode 4 mit Goalie Gilles Senn, der derzeit in der AHL bei den Binghamton Devils das Tor hütet:
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Das Tamedia-Eishockeyteam blickt im «Eisbrecher» regelmässig in längeren Gesprächen mit Persönlichkeiten aus diesem Sport hinter die Kulissen. Dabei lösen wir uns von der Aktualität, besprechen mit den Gesprächspartnern die Themen, die sie wirklich beschäftigen. Der Podcast ist auch auf Spotify sowie auf Apple Podcast zu hören.
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