G-20-Gipfel in Delhi Der Süden zeigt seine Muskeln
Indiens Regierungschef Modi tritt mit dem Selbstbewusstsein jener auf, die ihre besten Tage noch vor sich wissen. Der Westen gibt sich Mühe, die Länder des Südens auf seine Seite zu ziehen. Allerdings muss er dafür Zugeständnisse machen – vor allem beim Thema Ukraine.
In den abgesperrten und von Polizisten gesäumten Strassen Delhis blickt dann alle paar Meter Narendra Modi, der Premierminister, entschlossen von Plakaten herunter. Es gibt keinen Zweifel: Der Gastgeber des G-20-Gipfels richtet ein Fest der Diplomatie aus, aber er meint es damit auch sehr ernst.
Modi möchte bei diesem Gipfel die internationale Kooperation, nicht zuletzt aber auch sich selbst feiern. Indien, seit kurzem mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Welt, tritt mit dem Selbstbewusstsein jener auf, die ihre besten Tage noch vor sich wissen. Modi begnügt sich nicht damit, Konferenzräume anzubieten – er möchte seinen Führungsanspruch betonen und die Agenda mitbestimmen. Diese Agenda dreht sich, wie bei so vielen Staaten im Süden, vor allem um wirtschaftliche Entwicklung.
Die Gäste aus dem Westen freilich haben andere Sorgen, darunter vor allem den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sie möchten erreichen, dass der Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf das Nachbarland möglichst klar und scharf verurteilt wird. So wie im vergangenen Jahr auf Bali in Indonesien, als die Abschlusserklärung die Isolierung Russlands verdeutlichte.
«Wenn ich Präsident bin und Putin nach Brasilien kommt, dann wird er auf keinen Fall verhaftet.»
Denn das vergangene Jahr hat offenbart, dass die Länder des globalen Südens – etwa Brasilien, Südafrika, Indonesien und natürlich Indien – anders auf den Krieg in der Ukraine blicken als der Westen. Sie sehen sich als Leidtragende, wegen der gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise, und sie wollen vor allem, dass der Krieg bald endet. Während der Westen die Isolierung Moskaus anstrebt, wünscht der Süden eher einen Ausgleich, der die Krise beendet oder deren Folgen eindämmt.
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sagt denn auch, ungeachtet eines internationalen Haftbefehls könnte Russlands Präsident Wladimir Putin im nächsten Jahr zum G-20-Gipfel nach Brasilien reisen, ohne dort festgenommen zu werden. «Wenn ich Präsident bin und er nach Brasilien kommt, dann wird er auf keinen Fall verhaftet.» Brasiliens Unabhängigkeit müsse respektiert werden, fügt Lula hinzu.
So bietet dieser G-20-Gipfel viel Anschauungsmaterial für den Zustand der Welt. Jenseits des Streits über die Ukraine entwickeln sich vor und während der Konferenz weitere Handlungsstränge; ginge es um eine TV-Serie, würde man von «sub-plots» sprechen. Einer dieser Stränge handelt vom abwesenden chinesischen Präsidenten Xi Jinping: Sein nicht weiter erläutertes Fehlen lässt nur den Schluss zu, dass er seinem regionalen Rivalen Modi keinen Erfolg gönnt und das Weltereignis in Delhi deswegen boykottiert hat.
Keine Entscheidung zwischen den USA und China
Ein weiterer Strang handelt von Joe Biden, der den Einfluss der USA gegen China verteidigen will. Bidens Regierung ist treibende Kraft hinter zwei Vorhaben, die in Delhi Aufsehen erregen: Ein Schienen- und Schifffahrtsprojekt, das Europa, den Nahen Osten und Indien verbinden soll, ferner eine Weltbank-Reform, die Entwicklungs- und Schwellenländer mit mehr günstigen Krediten versorgen (und sie so an den Westen statt an China binden) soll.
Diese Handlungsstränge erzählen von einer Welt, die lange von den USA und Europa dominiert wurde und in der jetzt die Macht neu verteilt wird. Dabei ringen die USA und deren Verbündete vor allem mit Peking um globalen Einfluss. Aber die Länder des Südens, oft auch Schwellenländer genannt, behaupten sich zunehmend mit einer eigenen Agenda. Und sie sehen sich nicht in der Pflicht, sich entweder für die USA oder China zu entscheiden.
Süden will keine Klimadiktatur
Auf den Krieg in der Ukraine bezogen bedeutet das: Anders als den Ländern im Westen ist es jenen im Süden nicht so wichtig, Russland abermals scharf zu verurteilen. Eher wollen sie klären, wie es jetzt weitergeht. Das sehen auch die indischen Gastgeber so. Zum Gipfel in Delhi schreibt ein indischer Experte, die scharfe Erklärung von Bali habe einen «unglücklichen Präzedenzfall» geschaffen, das Schlussdokument sei auf Druck des Westens politisiert worden. Indien spiele dagegen eine vermittelnde Rolle. Und in Indien weiss man, dass der Gipfel nur dann als Erfolg gelten wird, wenn eine Einigung gelingt. Einfluss beweist man in der Diplomatie eben dadurch, dass man andere zu Kompromissen bewegt.
Modi möchte also Einstimmigkeit herstellen; den ganzen Sommer über ringen seine Unterhändler mit den Kollegen der anderen G-20-Staaten um das Schlussdokument. Darin steht am Ende vieles, vor allem viel Unverbindliches, etwa zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Auch das ist ein Beispiel für das neue Selbstbewusstsein des Südens: Die Staaten wollen sich von den Reichen im Westen nicht Klimaschutzvorgaben aufzwingen lassen, die sie teils als Klimadiktatur empfinden. So bleibt es auch in der G-20-Erklärung von Delhi bei ungefähren Formeln.
Überfall zu Thema Ukraine
Aber kein Thema bleibt so umstritten wie der Ukraine-Krieg. Die Inder lösen es am Ende quasi mit einem Überfall. Zusammen mit Indonesien, Südafrika und Brasilien legen sie am Freitagabend eine Kompromissformel vor. Entweder sei man dafür oder dagegen, heisst es. Es ist ein typischer Kompromiss: Russland wird nicht ausdrücklich verurteilt, allerdings gibt es einen Verweis auf UNO-Resolutionen, die Russland verurteilen. Allgemein wird appelliert, nicht das Staatsgebiet anderer Länder anzugreifen. Und es wird für unzulässig erklärt, Atomwaffen einzusetzen oder damit zu drohen. Das können alle unterschreiben, letztlich auch Russen und Chinesen.
Aber hilft es auch irgendwem, etwa der Ukraine? Anders als bei anderen Gipfeln ist der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski diesmal noch nicht einmal per Video zugeschaltet. Geht den Verbündeten der Ukraine also die Luft aus? Nein, sagen Wohlmeinende, denn selbst die abgeschwächte Ukraine-Formel könne Russland unter Druck setzen. So habe sich Russland ja nun ausdrücklich zur territorialen Integrität bekannt. Das mache es Ländern aus dem Süden leichter, Moskau dafür zu rügen, gegen eigene Zusagen zu verstossen.
Als nachhaltiger Erfolg von Delhi dürfte vor allem bleiben, dass der Club der G-20 die Afrikanische Union (AU) aufgenommen hat, sie vertritt die 55 Staaten des Kontinents und tritt der G-20 nun als zweite Regionalorganisation nach der EU bei. Es ist ein Erfolg für den indischen Gastgeber, der sich gegenüber afrikanischen Ländern profilieren will als Anführer des Südens, der es (im Gegensatz zu China) gut mit ihnen meint.
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