Prozess wegen VeruntreuungLe Pen kämpft um ihr politisches Überleben – und klagt über die Härte des Gesetzes
Seit dem Strafantrag gegen Marine Le Pen im Prozess um fiktive Jobs greift die Chefin von Frankreichs extremer Rechten die Justiz frontal an. Ihre wichtigsten Argumente? Alle widerlegbar.
Und plötzlich ist das Lächeln weg, auch das sanfte Reden. Seit einer Woche erleben die Franzosen Marine Le Pen, die Chefin der extremen Rechten Frankreichs, wieder in ihrer alten, lauten Opferrolle. Sie kämpft um ihr politisches Überleben.
Im Prozess wegen mutmasslicher Scheinbeschäftigung von Assistenten im Europaparlament, die sie und ihre Partei Rassemblement National umtreibt, hat die Staatsanwaltschaft folgendes, ziemlich erschütterndes Strafmass gefordert: fünf Jahre Haft, davon drei auf Bewährung und zwei mit elektronischen Fussfesseln; eine Geldstrafe von 300’000 Euro; und – vor allem – fünf Jahre politische Unwählbarkeit, und zwar mit sofortiger Wirkung. Folgt das Pariser Gericht diesem Antrag, dann wäre Le Pens Karriere kompromittiert. Sie wäre ausgeschlossen von der nächsten Präsidentenwahl, 2027.
«Soutenez Marine!» – Die Partei lanciert eine Petition
Das Urteil wird erst für Anfang 2025 erwartet. Doch Le Pen, die von Beruf Anwältin ist, tut so, als wäre der Strafantrag schon ein Verdikt. Das soll das Gericht beeindrucken und die Basis mobilisieren. Die Partei hat eine Petition gestartet: «Soutenez Marine!» Unterstützt Marine! Mehr als hunderttausend Sympathisanten sollen sie schon unterschrieben haben.
In den Abendnachrichten auf dem grossen Fernsehsender TF1 sagte Le Pen vor ein paar Tagen, sie sei das Opfer einer «politischen Todesstrafe», man wolle sie eliminieren. «Die Franzosen müssen wissen, dass man ihnen ihre Wahl wegnehmen will – das ist ein sehr gewaltiger Angriff gegen die Demokratie.»
Als die Moderatorin sagt, sie sehe das Problem nicht: Die Partei könne bei einer allfälligen Verurteilung einen anderen Kandidaten aufstellen, zum Beispiel ihren politischen Ziehsohn, Jordan Bardella, 29 Jahre alt, der bereite sich ja vor. Da lächelt Le Pen kurz, und man weiss nicht, ob es herablassend wirkt oder eher nervös. Der Ausgang dieses Prozesses könnte die französische Politik auf den Kopf stellen – und die extreme Rechte dazu.
Zunächst aber nun zu den Vorwürfen der Anklage. Die Staatsanwaltschaft findet, der Front National, wie die Partei der Familie Le Pen früher hiess, habe «in beispielloser Art» und über eine «beispiellos lange Dauer» öffentliches, europäisches Geld veruntreut, etwa 5 Millionen Euro zwischen 2004 und 2016. Es habe ein wahres «System» der Veruntreuung gegeben, einst eingeführt von Vater Jean-Marie, dann ausgebaut von Tochter Marine.
Die Le Pens brauchten die Zuschüsse, die ausschliesslich für die Arbeit im Europaparlament vorgesehen wären, nämlich für die Entlohnung von Mitarbeitern der EU-Abgeordneten, für ihr Personal in Paris und ihre persönlichen Bediensteten. So wurde unter anderem Marine Le Pens Sekretärin und gute Freundin Catherine Griset mal schnell zur Assistentin im Europaparlament – für die Anklage rein fiktiv. Griset, die mittlerweile Europaparlamentarierin ist, war in jenen Jahren fast nie in Strassburg und Brüssel.
Auch der Butler war parlamentarischer Mitarbeiter
Auch der langjährige Bodyguard der Le Pens signierte als parlamentarischer Mitarbeiter. Jean-Marie Le Pens «majordome», der Butler also, Gérald Gérin, wurde mit dem Steuergeld bezahlt. Im Gericht wurde er gefragt, mit wem er sich denn öfter traf in seiner Zeit als parlamentarischer Assistent: mit Le Pen oder mit der Abgeordneten? Gérin: «Natürlich mit Le Pen, ich lebte bei ihm.» Die Akte ist voll mit solchen Beispielen, alle dokumentiert.
Marine Le Pen sagte bei ihrem Auftritt bei TF1, das Geld habe allein der Politik gedient, «den Interessen der Franzosen», es gebe in dieser Geschichte also «keinen Cent der persönlichen Bereicherung». Und deshalb sei dieser Strafantrag «empörend, übertrieben, mit nichts zu vergleichen». Man hält ihr entgegen, dass sie mit den Millionen ihre Karriere, ihren Lebenswandel und den Unterhalt ihrer engsten Entourage finanziert habe. Die Parteikassen waren leer.
Wenn Le Pen behauptet, der Umgang der Justiz mit ihr sei «mit nichts zu vergleichen», blendet sie mindestens zwei sehr illustre Beispiele aus. Alain Juppé und François Fillon, beide frühere Premierminister, sind wegen ähnlicher, im Ausmass aber viel unbedeutender Vergehen gar je zu zehn Jahren Unwählbarkeit verurteilt worden. Auch sie hatten die Ambition, Präsident zu werden. Und waren damit verhindert.
Bleibt Le Pens Vorwurf, man verwehre ihr die Instanzen. Das stimmt nicht, sie kann in Berufung gehen. Doch die Anrufung der zweiten Instanz setzt die Wirkung der Unwählbarkeit nicht aus. So will es das Gesetz. Seit 2016 geht Frankreich härter vor gegen Politiker und Parteien, die Geld veruntreuen. Die Verschärfung war eine Folge von Grossskandalen. Die Zustimmung im Volk? 85 Prozent. Mit dem sofortigen Inkrafttreten der Unwählbarkeit soll der Gefahr gewehrt werden, dass verurteilte Veruntreuer wieder veruntreuen.
Der Reflex der Rechtspopulisten
Marine Le Pen fordert also eine Ausnahmebehandlung, weil es ja nicht sein könne, dass «14 Millionen Wähler ihre Kandidatin» verlören, wie sie es nannte. Ziehsohn Bardella schickte nach: «Das Oberste Gericht ist der Volkswillen.» Marine Le Pen sei «total unschuldig».
Das ist der Reflex vieler bekannter Rechtspopulisten: Im Alltag fordern sie die ganze Härte des Gesetzes, für alle, und erwarten Grossherzigkeit, wenn die Justiz sich mit ihnen selbst beschäftigt. Die Zeitung «Libération» titelte in diesem Zusammenhang neulich: «Marine Le Pen, Donald Trump – symmetrische Schocks.»
Es ist also gut möglich, dass Le Pen mit ihrem Konter, ihrem Plädoyer in eigener Sache ausserhalb des Gerichts, das Land weiter polarisiert. Damit endet aber auch die Phase der «Entteufelung», der Normalisierung der Partei, für die sie in den vergangenen Jahren viel Energie aufgewendet hatte. Sie war ein Erfolg, das zeigen die jüngsten Wahlresultate ihrer Partei und ihre eigene Beliebtheit im Volk. In der Not ist sie aber wieder die Alte.
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