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Flucht nach Europa
Übers Meer und durch die Wälder

A migrant looks at a smartphone at the camp site of refugees and migrants who spend the night on the street after their arrival at the Greek island of Lesbos after crossing the Aegean sea from Turkey on October 4, 2015. Europe is grappling with its biggest migration challenge since World War II, with the main surge coming from civil war-torn Syria. AFP PHOTO / ARIS MESSINIS (Photo by ARIS MESSINIS / AFP)
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Männer, die den Bergen trotzen – so nennen sich junge Araber, die sich via Telegram über Fluchtwege nach Europa absprechen. In der fast 60'000 Mitglieder umfassenden Gruppe trudeln gerade fast täglich mehrere Videos ein, in denen sie sich für die Hilfe während der Flucht bedanken, mit erschöpften, aber erleichterten Gesichtern. Denn sie alle haben Ende September den weiten Weg nach Europa geschafft. «Wir haben Wälder und Täler überwunden und Berge überquert», sagt ein junger Mann mit syrischem Akzent, der eine medizinische Maske im Gesicht trägt. Er zählt sich zur Gruppe 1291 und sagt, dass jetzt ein neues Leben für ihn und seine Freunde beginne, in Holland, Deutschland, der Schweiz.

All diese Videos folgen demselben Drehbuch: Die Männer sitzen entweder im Grünen, im Dunklen oder im Zug, nennen die Nummer ihrer Gruppe, das Datum ihrer Ankunft und bedanken sich bei vier Männern für all die Hilfe: Ahmed al-Iraqi, Abu Sajad, Abu Djafaar, Abu Falah. «Sie haben sich um uns gesorgt, als wären sie mit uns verwandt, gefragt, ob wir hungrig sind, ob uns kalt ist, ob wir erschöpft sind. Wir werden unseren Kindern noch davon erzählen», lobt ein Ankömmling. Auch die Preise seien «die günstigsten» gewesen.

Die Art, wie uns das belarussische Militär behandelt, kennen wir nicht mal von Baschar al-Assad.

Syrischer Flüchtling

Die Gruppe 1360 ist besonders gut drauf, die jungen Männer sitzen in einem Zug in Italien, der sie nach eigenen Angaben in die Schweiz bringen wird. «Jetzt ist der Weg golden», sagt ein junger Mann, alle anderen grinsen in die Kamera, ihre Smartphones in der Hand. Der Kanal ist nur einer von etlichen, die sich auf die Flucht nach Europa spezialisiert haben.

Ein Mr. Qalaq warnt vor den Gefahren auf der Belarus-Route

Ein anderer wirbt mit der Flüchtlingsroute über Russland, Belarus und Polen, er zählt fast 20'000 Abonnenten. Dort ist die Stimmung angespannt, der Verantwortliche nennt sich Mr. Qalaq, also Mister Sorge, er warnt die Migranten vor den kälter werdenden Temperaturen und den belarussischen Sicherheitskräften. In einer Sprachnachricht von Mitte September erzählt er mit tiefer Stimme, er komme gerade vom Freitagsgebet in der belarussischen Grenzstadt Brest und habe erfahren, dass drei Männer in den Wäldern zwischen Belarus und Polen gestorben seien.

A migrant man looks at his smartphone as he rests on March 3, 2016 at the Victoria square in central Athens, where hundreds of migrants and refugees stay temporarily. Athens said on March 3, 2016 it now had nearly 32,000 migrants on its territory, after Austria and Balkan states began restricting entries, creating a bottleneck in Greece. (Photo by Panayotis TZAMAROS / AFP)

«Ja, die Lage in allen arabischen Ländern ist Mist, in Syrien gibt es kein Wasser, keinen Strom, aber deswegen sollte man seine Seele nicht hergeben», sagt Mr. Qalaq und teilt im Anschluss die Sprachnachricht eines Mannes mit syrischem Dialekt, der ziemlich verzweifelt klingt: «Mister, die Art, wie uns das belarussische Militär behandelt, kennen wir nicht mal von Baschar al-Assad. Sie hetzen Hunde auf uns, schlagen uns, werfen uns auf den Boden. Wie kommen wir zurück nach Minsk?», fragt er. Sie seien nur zwanzig Meter vom Grenzzaun entfernt.

Ein anderer Mann bedankt sich bei ihm für die Warnung vor dem «Niemandsland», in dem «Männer weinen» und den «Tod finden» und dafür auch noch «riesige Summen» bezahlen. Doch sogar in dieser Gruppe teilen Ankömmlinge immer mal wieder ihre Videos, sie haben es nach Deutschland geschafft, sagen sie und bedanken sich bei Gott und Mister Qalaq für die Hilfe.

3000 statt 8000 Euro von der Türkei nach Deutschland

Beide Kanäle positionieren sich gegen Menschenhandel. Schmuggler nennen sie «Teufel», die keinen «Funken Menschlichkeit» besitzen. Doch was sind diese Männer dann? Auf Telegram antwortet einer der Verantwortlichen nach ein paar Tagen, er gibt sich als Ahmed al-Iraqi zu erkennen. Er sagt in einer Sprachnachricht, dass er in Europa sei und die Hauptarbeit darin bestehe, GPS-Daten mit den Interessierten zu teilen. «Wir helfen ihnen, über den Fluss nach Griechenland zu kommen, und teilen ihnen GPS-Daten mit, wo Autos auf sie warten.»

Die meisten würden nach Deutschland, in die Niederlande und Belgien wollen. Auf diese Weise wolle man «die Armen» vor den «Schleusern» und ihren «Summen» bewahren. Sie selbst würden nur einen «kleinen Anteil» nehmen, gibt er auf Nachfrage zu. Irgendwann rückt er dann mit den Zahlen raus: Von der Türkei nach Deutschland würde es bei ihnen 3000 Euro kosten, die Schleuser nehmen dafür 8000 Euro.

«Anders als bei einem Absturz wird man wahrscheinlich nie erfahren, wie die letzten 30 Sekunden im Leben eines Flüchtlings aussehen»

Haider Ismail

Zum Gesamtpaket gehört offenbar auch eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl. So klären die Verantwortlichen auf, welche Ausstattung für die Flucht notwendig ist (Handschuhe, Powerbank), wie viel die Reise kosten wird (hängt vom Durchhaltevermögen ab) und wie man Hochstapler erkenne (sobald das Wort Chauffeur falle). Manchmal teilen sie Fotos von mutmasslichen Schmugglern, auf dessen Stirn steht dann: Nasab, Betrüger.

Auch Haider Ismail will die Menschen warnen, allerdings vor der Flucht selbst. Der 48-jährige Iraker lebt seit neun Jahren in Holland, seinen Youtube-Kanal hat er zu Corona-Zeiten gegründet: «Black Box», angelehnt an das Aufzeichnungsgerät im Flugzeug. «Anders als bei einem Absturz wird man wahrscheinlich nie erfahren, wie die letzten 30 Sekunden im Leben eines Flüchtlings aussehen», sagt Ismail am Telefon. Deshalb spricht er am liebsten über die Risiken. Über 300 Videos hat er bislang hochgeladen, mit einigen erreicht er Hunderttausende. Sie tragen Titel wie «Die Geschichte einer Migrantin, die auf der Schmuggelroute ihr Kind zur Welt brachte» oder «Die Härten des Exils und die Gründe, sie zu ertragen».

Haider Ismail, der von den Niederlanden aus den Youtube-Kanal «Black Box» betreibt.

In einigen Videos sprechen Geflüchtete sehr detailliert über ihre Wege nach Europa, ob durch belarussische Wälder oder übers Mittelmeer. Könnte das nicht auch zur Flucht animieren? «Klar, aber ich versuche, stattdessen die Gefahren aufzuzeigen», sagt Ismail. Zu Beginn seiner Videos blendet er die fettgedruckte Aufforderung ein, all diese Erfahrungen nicht nachzumachen. «Ich will ihnen zeigen, dass Europa nicht nur Traum, sondern auch Albtraum sein kann», sagt Ismail.

Rostiges Wasser für Säuglinge

Auch er selbst wagte damals die gefährliche Route übers Mittelmeer. Vom ägyptischen Alexandria dauerte es zwölf Tage, bis der Frachter mit rund 300 Menschen in Italien ankam. «Es war der Horror. Irgendwann machte der Motor schlapp, Eltern gaben ihren Säuglingen Wasser, das für die Kühlung der Motoren gedacht war. Es war rötlich vor lauter Rost», erinnert sich Ismail. Im Nachhinein ist er froh, dass er damals nicht wusste, dass die Ankunft nicht das Ende, sondern erst der Beginn der Reise war. Es dauerte acht Jahre, bis Ismail Asyl in Holland bekam. «In der Zeit hätte ich so viel erreichen können», sagt der Iraker.

Heute würde er nicht noch mal die Flucht antreten. «Das Herumsitzen, das Warten, das wünsche ich keinem», sagt Ismail. Die Geflüchteten denken, es reiche anzukommen, um ihr Leben zum Besseren zu verändern. Oft filmen die teilweise sehr jungen Migranten wie Dokumentarfilmer ihre Reise ab, um sie dann als Heldengeschichte zu verkaufen, erzählt er. Er erinnert sich an einen Jemeniten, der in den Wäldern von Belarus die Blätter des Kat-Baums kaute und unbedingt wollte, dass er diese Sequenz einblende.

Doch sie wüssten nicht, wie überfordert viele europäische Länder mittlerweile seien und was sie dort erwarte. Sein Sohn, 13 Jahre alt, der habe sich in den Niederlanden gut integriert. Er selbst lerne immer noch die Sprache, fremdle mit der Kultur und verstehe zunehmend seinen holländischen Nachbarn, der jeden Tag arbeite, Steuern zahle und das Gefühl habe, es kämen immer nur noch mehr Migranten, die erst einmal nicht arbeiten können – oder auch wollen.

«Die meisten Menschen, mit denen ich spreche, wollen eine bessere Zukunft. Aber nicht alle haben realistische Vorstellungen, wie hart sie dafür arbeiten müssen», sagt Ismail. Er selbst habe immer noch keinen festen Job. Europa müsse Arbeitsmöglichkeiten in den Herkunftsländern schaffen und legale Einwanderungswege fördern, findet Ismail. Korrupten Regierungen Geld für stärkere Grenzkontrollen zu geben, sei nichts weiter als ein «akutes Schmerzmittel», doch das Problem bedürfe einer «Therapie», sagt Ismail. «Menschen werden nie aufhören, sich nach einem besseren Leben zu sehnen. Das haben wir alle gemeinsam.»