Migration über das MittelmeerSeenotrettung zieht keine Migranten an, sagt neue Studie
Die Aussicht auf Rettung soll Menschen zur Flucht nach Europa ermutigen, wird immer wieder behauptet. Ein Forscherteam kommt zu einem anderen Schluss.
Es ist ein häufiger Vorwurf: Organisationen, die in Seenot geratene Migrantinnen und Migranten auf dem Mittelmeer retten, würden die Migration zusätzlich anheizen. Sie würden den Weg über das Mittelmeer weniger gefährlich machen und damit mehr Menschen ermutigen, nach Europa zu reisen.
Eine neue Studie zeigt nun, dass dies nicht stimmt. Die entscheidenden Faktoren für den Aufbruch von Migranten seien vielmehr sich verschlimmernde Konflikte, Naturkatastrophen und steigende Preise für Lebensmittel in der Heimat. Auch die Wettervorhersage spiele eine Rolle. Die Anwesenheit von Seenotretterinnen und -rettern habe hingegen keinen Einfluss, heisst es in der am Donnerstag in «Scientific Reports» veröffentlichten Studie, die «peer-reviewed» wurde.
Keine Verbindung zwischen Rettungsaktionen und Migrationsversuchen
«Es gibt keine Verbindung zwischen lebensrettenden Aktionen im Meer und der Zahl der Migranten», sagte Julian Wucherpfennig von der Berliner Hertie School, einer der Co-Autoren der Studie. «Rettungsaktionen retten vor allem Leben, aber sie ziehen keine zusätzlichen Migranten an», bekräftigte Ramona Rischke vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung.
Die Wissenschaftler analysierten Daten aus der Zeit von 2011 bis 2020 von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der libyschen und tunesischen Küstenwache, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und einer Nichtregierungsorganisation, die die Identität von Migranten ermittelt, die im Mittelmeer sterben. Daraus schätzten sie die gesamte Anzahl von Migrationsversuchen über die zentrale Mittelmeerroute.
Diese verglichen sie dann mit Daten zu verschiedenen mutmasslichen Migrationsfaktoren wie Kriegen, Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, dem Wetter, aber auch der Anzahl der Seenotrettungsaktionen.
Dabei zeigte sich der Studie zufolge, dass das Ausmass der Rettungsaktionen im Mittelmeer keine Rolle bei der Frage spielt, wie viele Menschen die Überfahrt nach Europa antreten. Dies gelte auch für den Fall der Operation «Mare Nostrum», bei der die italienische Küstenwache 2013 und 2014 etwa 100’000 Migranten im Mittelmeer aus Seenot rettete.
Über 20’000 Tote seit 2014
Damit widerlegt die Studie ein Argument von Politikern wie der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni, die in Rettungsaktionen einen zusätzlichen Beweggrund für potenzielle Migranten sieht. Italien geht schon seit längerem juristisch gegen Organisationen vor, die aktive Seenotrettung betreiben.
Die Route von Nordafrika über das Mittelmeer gilt als die weltweit gefährlichste. Seit 2014 haben nach Angaben der IOM mehr als 20’000 Migranten im Mittelmeer ihr Leben verloren oder werden als vermisst gemeldet. Die meisten von ihnen sind ertrunken.
AFP/boj
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