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Klage gegen Transfersystem
Die Fifa verliert – wird nun der Fussball auf den Kopf gestellt?

SINGAPORE - JULY 30: Lassana Diarra #19 of Paris Saint Germain looks during the International Champions Cup match between Paris Saint Germain and Clu b de Atletico Madrid at the National Stadium on July 30, 2018 in Singapore.  (Photo by Thananuwat Srirasant/Getty Images for ICC)
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Die Transferregeln der Fifa entsprechen nicht dem EU-Recht. So lautet das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall des ehemaligen französischen Fussballers Lassana Diarra. Sportler und Vereine seien «mit erheblichen rechtlichen, unvorhersehbaren und potenziell sehr grossen finanziellen sowie ausgeprägten sportlichen Risiken» belastet gewesen, so der Wortlaut in der Pressemitteilung.

Der Gerichtshof entscheidet den Streit nicht selbst, es ist nun Sache des belgischen Gerichts in Mons, die Meinung des EU-Gerichts zu berücksichtigen. Denn dieses wandte sich mit dem Fall an das Gericht in Luxemburg.

In einer ersten Reaktion reagiert der Weltverband so: «Die Fifa ist davon überzeugt, dass die Rechtmässigkeit der wichtigsten Grundsätze des Transfersystems durch das heutige Urteil erneut bestätigt worden ist.»

Was bedeutet denn nun dieser Entscheid? Wir beantworten die drängendsten Fragen.

Wer ist Lassana Diarra? Und wo liegt der Ursprung dieses Urteils?

Der mittlerweile 39-Jährige spielte unter anderem bei Real Madrid und Olympique Marseille, zudem lief er 39-mal für die französische Nationalmannschaft auf. 2014 unterschrieb Diarra einen Vierjahresvertrag bei Lokomotive Moskau. Nach einem Jahr geriet er mit seinem damaligen Trainer aneinander und löste seinen Vertrag «ohne triftigen Grund» auf, wie es der Internationale Sportgerichtshof in Lausanne entschied. Die Folge: Die Fifa belegte Diarra mit einer Strafe über zehn Millionen Franken, diese Summe wurde aufgrund seines Einkommens festgelegt.

Der Franzose wollte beim RSC Charleroi in der belgischen Liga anheuern – weshalb auch ein belgisches Gericht über den Fall urteilt. Die Fifa und der belgische Verband drohten dem Verein mit Klagen. Denn es gilt: Übernimmt ein Verein einen vertragsbrüchigen Spieler, muss sich der Club an dessen Geldstrafe beteiligen. In Juristendeutsch: Es besteht eine Solidarhaftung. Charleroi bekam kalte Füsse und trat vom Deal zurück. Diarra pausierte ein Jahr und unterschrieb dann bei Olympique Marseille.

Später klagte er auf Erwerbsersatz in Höhe von sechs Millionen Euro gegen die Fifa – aufgrund der restriktiven Vorgaben. Ohne diese hätte Diarra nach eigener Aussage den Job bei Charleroi bekommen. In erster Instanz wurden dem Franzosen 60’001 Euro zugesprochen, dann ging der Fall weiter zum Berufungsgericht im belgischen Mons. Dieses wandte sich an den Europäischen Gerichtshof, der nun das neuste Urteil sprach. So einfach wie kompliziert.

Was wären die möglichen Folgen des Urteils für die Spieler?

Fussballerinnen und Fussballer könnten bei einem entsprechenden Urteil aus Belgien ohne triftige Gründe von einem laufenden Vertrag zurücktreten. Somit erhalten Vertragslaufzeiten eine geringere Relevanz, und Spieler könnten schneller den Club wechseln. Sie müssten nur noch einen im Vertrag festgelegten Schadenersatzanspruch an den abgebenden Verein bezahlen. Der geschuldete Betrag dürfe nicht über das hinausgehen, was vernünftigerweise als erforderlich angesehen werden könne, heisst es im Schlussantrag des EU-Gerichts.

Das alles könnte zur Folge haben, dass sich die Fluktuation im Kader erhöht. In anderen Worten: Die Abwanderungswilligen könnten so unkompliziert den Verein verlassen, und umgekehrt könnten die Verträge der überflüssigen Spieler vorzeitig ohne Einvernehmen des Spielers aufgelöst werden. Auch hier gelten die obigen Bestimmungen bezüglich des Schadenersatzanspruchs. Die beidseitige Vertragssicherheit wäre nicht mehr im gleichen Ausmass gegeben.

Was wären die möglichen Folgen für die Vereine?

Eine viel diskutierte Thematik ist die Höhe der Ablösesummen. Bekommen die Vereine noch Ablösen für Spieler, die ihre Verträge kündigen und frei auf dem Markt sind, oder werden hier neue Klauseln erarbeitet? Das Urteil könnte Einfluss auf die üppigen Ablösesummen haben.

Zudem müssten die Clubs keine Befürchtungen mehr haben vor etwaigen Sanktionen oder Solidarhaftung, da diese dem Europäischen Gerichtshof zu weit gehen. Dennoch hält das Gericht aber fest, dass es im Rahmen des sportlichen Wettbewerbs zu Einschränkungen kommen darf, wie etwa Schadenersatzansprüche an Spieler.

Die Gespräche zwischen den Vereinen, nationalen Verbänden und der Fifa werden wohl sehr bald geführt. Verfrühte Polemik bei den Clubs wäre ein schlechtes Mittel, das zeigen auch die Reaktionen auf das Bosman-Urteil von 1995. Dazu später mehr.

Würde der Fussball-Standort Schweiz davon profitieren?

Nach jetzigem Wissensstand nicht. Künftig würden vor allem die grossen Vereine profitieren, die bislang viel Geld für Transfers ausgegeben haben. Kleinere Clubs, die einen Grossteil ihres Umsatzes durch Transfererlöse generierten, wären im Nachteil und wohl auch mehr Fluktuation ausgesetzt. Denn sie wurden durch das bestehende System eher geschützt als die ganz grossen Vereine. Doch auch hier gilt: Es wird einen runden Tisch geben, der sich dieser Thematik annimmt. Und auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Runde wissen: Der Fussball funktioniert nur in seiner breiten Professionalität.

Was war das Bosman-Urteil?

Es war eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1995, die den Fussball stark veränderte. Vorher mussten Vereine Ablösesummen zahlen, auch wenn ein Spieler keinen Vertrag mehr hatte. Der belgische Spieler Jean-Marc Bosman klagte dagegen, er, vertragslos, wollte ablösefrei wechseln. Der Europäische Gerichtshof stellte sich auf die Seite des Belgiers. Seitdem können Spieler nach Vertragsende ohne Ablöse den Verein wechseln. Die Beschränkung für die Anzahl ausländischer Spieler wurde ebenfalls aufgehoben. Der damalige Anwalt von Bosman: Jean-Louis Dupont. Der Anwalt von Lassana Diarra: Jean-Louis Dupont.

Was ist die Relation zum Bosman-Urteil?

Das Urteil, das vor rund dreissig Jahren gefällt wurde, gilt als eines der oder sogar als das folgenschwerste Sporturteil des Europäischen Gerichtshofs. Uli Hoeness, der damalige Sportchef von Bayern München, sah «mittelfristig das ganze System kaputtgehen». Der damalige Werder-Sportchef Willi Lemke betitelte das Urteil als «Katastrophe, weil billige Gastarbeiter die Plätze für den deutschen Nachwuchs blockieren könnten».

Die Folgen des Urteils waren markant, aber weniger gravierend als angenommen. Spürbar war es für die Vereine dennoch, vor allem für die kleineren und auch für das gesamte Wirtschaftssystem Fussball. Den Spielern wurde mehr Macht gegeben, das Handgeld, wie wir es heute kennen, hat sich etabliert. Auch vom heute gefällten Urteil sind Folgen zu erwarten, mit Neuerungen im gesamten Transferzyklus – die aber kaum mit den Auswirkungen des Bosman-Urteils vergleichbar wären.

Was ist das Fazit?

Nun gilt es in erster Linie das Urteil des belgischen Gerichts abzuwarten. Und dann auch noch einen möglichen Rekurs. Von heute auf morgen werden also keine Veränderungen spürbar sein. Es kommt wohl zu einem langwierigen Prozess, bei dem sich die verschiedenen Parteien mit der neuen Rechtsprechung beschäftigen. Natürlich ist es aufseiten der Spieler zu begrüssen, die Wahl des Arbeitgebers selbst bestimmen zu können. Doch fixe Vertragslaufzeiten sind im schnelllebigen Fussball-Business auch wichtige Sicherheiten für Fussballerinnen, Fussballer, Clubs und Fans.

Jedoch darf weiterhin davon ausgegangen werden, dass nicht jede Fussballerin und jeder Fussballer einen chronischen Wechselwunsch hat – den meisten fehlt es ohnehin an Angeboten. Zudem ist es der Fifa zuzutrauen, mit schnellen Anpassungen das Transfersystem in ihren Grundmauern zu schützen.

Eine «Anarchie» des Fussballs, wie sie etwa der «Guardian» vor der Urteilsverkündung befürchtete, liegt im Interesse keiner der beteiligten Parteien in diesem Milliardenbusiness.