Geschäfte mit HirnstimulationSie machen Geld – und Alzheimer-Kranken falsche Hoffnungen
Anbieter und Wissenschaftler spekulieren, dass sich das Gedächtnis womöglich mit elektrischem Strom beeinflussen lässt. Doch sie bewerben bisher unbewiesene Methoden.
Er wog 190 Kilo und hatte schon alles Mögliche versucht. Aber der 50-jährige Mann bekam sein exzessives Essen nicht in den Griff. Ein kanadisches Forscherteam bot ihm eine experimentelle – und bei Fettleibigkeit völlig unbewiesene – Methode an: Die Neurochirurgen pflanzten ihm zwei Elektroden tief ins Gehirn und verbanden sie mit einem Schrittmacher unter der Haut am Brustkorb. Diese sogenannte «tiefe Hirnstimulation» sollte ihm helfen, abzunehmen. So die Hypothese.
Doch etwas anderes geschah: Der Mann erinnerte sich plötzlich an lange zurückliegende Ereignisse. Die tiefe Hirnstimulation schien sein Gedächtnis zu verbessern. Gegen das Übergewicht half sie nicht.
Das Forscherteam schrieb keinen wissenschaftlichen Bericht über das gefloppte Experiment. Sondern es rückte die unerwarteten Nebenwirkungen in den Vordergrund. Womöglich liesse sich das Gedächtnis mit elektrischem Strom beeinflussen, spekulierte die Gruppe um Andres Lozano von der Universität Toronto – und machte weiter.
Als «Booster» für das Gedächtnis angepriesen
Man habe bereits drei Alzheimer-Patienten Hirnelektroden eingepflanzt, «der Eingriff erscheint sicher und vielversprechend», zitierte das angesehene Wissenschaftsmagazin «Nature» im Jahr 2008 den Hirnchirurgen Andres Lozano und titelte: «Hirnelektroden können das Lernen verbessern».
«BBC News» berichtete, dass die tiefe Hirnstimulation das Gedächtnis «booste». Alzheimer könnte womöglich der Vergangenheit angehören, prophezeite «The Telegraph». Und «The Independent» schrieb: «Wissenschaftler entdecken Methode, um den Gedächtnisverlust rückgängig zu machen».
Die übertrieben positiven Schlagzeilen waren keine Einzelfälle: 51 Prozent von 235 analysierten Artikeln zeichneten ein optimistisches Bild verschiedener Neurostimulationsmethoden, nur vier Prozent betonten auch die Risiken, berichtet ein Fachartikel, der sich kritisch mit der «überoptimistischen» Darstellung auseinandersetzte.
Wesentliche Fragen nicht beantwortet
Dazu trugen auch Wissenschaftler bei. Ein «exzessives Abstützen auf Einzelfallberichte» warf der Schweizer Psychiater Thomas Schläpfer – selbst Forscher auf dem Gebiet – manchen Kolleginnen und Kollegen 2010 im US-Ärzteblatt «Jama» vor. Er warf die Frage auf, wie viele solcher Berichte nie öffentlich wurden, weil sie nicht das erhoffte Resultat erbracht hatten. Solches «Underreporting» führe zu einer verzerrten Einschätzung und könne Patienten schaden, schrieb Schläpfer. Wesentliche Fragen, etwa nach der Lebensqualität oder nach unerwünschten Persönlichkeitsveränderungen durch die Hirnstimulation, blieben meist unerwähnt, monierte er.
Bei einigen der Alzheimer-Patienten, denen Lozano bisher Hirnelektroden einpflanzte, hatten nicht die Betroffenen selbst die Einwilligung dazu gegeben, sondern ihre Nächsten. Und was aus den Versuchspatienten wurde, die sich im Lauf der Jahre solchen Eingriffen unterzogen, wurde oft nicht mehr berichtet. Auf diese ethisch problematischen Punkte wiesen Wissenschaftler 2018 in «BMC Medical Ethics» hin.
Studien zu Impotenz als Beleg für angebliche Wirkung angeführt
Auch andere Neurostimulationsverfahren werden gegen Alzheimer beworben. Die Website von «Alzheimer-Demenz Deutschland» etwa lobt die «transkranielle Pulsstimulation» (TPS) und verweist auf fünf Anbieter in der Schweiz. Dabei sollen durch die Schädeldecke hindurch verabreichte Ultraschallwellen das Gehirn stimulieren. Laut Auskunft von Alzheimer-Demenz Deutschland kosten sechs Behandlungen etwa 3000 Euro, täglich würden sich Anrufende danach erkundigen.
Die TPS, steht auf der Website, werde «bei leichter und mittelschwerer Alzheimer-Demenz erfolgreich eingesetzt». Gemäss klinischen Studien zeige sich «auch in der ärztlichen Praxis, dass die TPS wirksam, lang anhaltend und nebenwirkungsfrei ist». Ein Autor des Texts war massgeblich an der Entwicklung der TPS beteiligt. Früher habe man die Diagnose Demenz als gegeben hinnehmen müssen, dank der TPS könne man nun «dieser Unausweichlichkeit» entgehen, heisst es in einer Pressemitteilung.
Die Faktencheck-Webseite «medizin-transparent» besah sich die Studien, die verschiedene Anbieter als Wirksamkeitsbelege angeführt haben, nach wissenschaftlichen Kriterien: «In manchen der aufgezählten Untersuchungen ging es gar nicht um Demenz, sondern andere Probleme wie Herzerkrankungen, Impotenz oder Rückenmarksverletzungen.»
«Um eine Wirksamkeit zu zeigen, wären Studien mit mehr Teilnehmenden und einer Vergleichsgruppe nötig.»
Zwei Studien mit 35 beziehungsweise 20 Demenzkranken schienen zu zeigen, dass das Gedächtnis und die Stimmung etwas besser wurden. Doch es sei «unklar, ob die Ergebnisse ohne transkranielle Pulsstimulation genauso ausgefallen wären. Denn eine Vergleichsgruppe, die nicht behandelt wurde, gab es nicht. Ein Placebo-Effekt der Behandlung ist also nicht auszuschliessen. Wir halten die Studienergebnisse deshalb für nicht aussagekräftig. Um eine Wirksamkeit zu zeigen, wären Studien mit mehr Teilnehmenden und einer Vergleichsgruppe nötig», so «medizin-transparent». Solche Studien, durchgeführt unter anderem von einem Professor an der Universität Wien, stellt Alzheimer-Demenz Deutschland für die TPS in Aussicht. Die Resultate würden bald publik.
Die Kritik von «medizin-transparent» trifft auch auf diverse andere Studien zu, sei es mit transkranieller Magnetstimulation, bei der eine elektrische Spule an der Kopfhaut Magnetimpulse ans Hirn abgibt, sei es mit Verfahren, die mit nVNS, tDCS, CES oder anderen Kürzeln bezeichnet werden (hier eine Übersicht). Allen gemeinsam ist, dass Geräte oder Elektroden zum Einsatz kommen, die durch die Haut oder direkt im Hirn oder an bestimmten Nerven die Demenz oder ihre Begleiterscheinungen verbessern sollen.
Je nach Studie wird mal diese Hirnregion, mal jene stimuliert, mal hochfrequent, mal niederfrequent, mal wird dieser Gedächtnistest verwendet, mal jener, oft sind die Nachbeobachtungszeiten kurz. Ein kritischer Punkt sind mögliche Interessenkonflikte, weil die Forschenden oft Zuwendungen von den Geräteherstellern erhalten oder – wie Lozano – sogar selbst Patente erworben haben. «Die wichtige Frage, ob auch die Angehörigen Fortschritte erkennen, wird in den Studien fast nie systematisch beantwortet», wendet Markus Christen vom Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte an der Universität Zürich ein.
Nach jedem Strohhalm greifen
«Viele Menschen mit Alzheimer und ihre Angehörigen sind so verzweifelt, dass sie nach jedem Strohhalm greifen», sagt Annette Brühl, Chefärztin am Zentrum für Affektive, Stress- und Schlafstörungen & Zentrum für Alterspsychiatrie in Basel. «Aber wenn das Gehirn so verändert ist wie bei dieser Krankheit, dann ist es höchst unwahrscheinlich, dass solche Methoden etwas ausrichten.»
Nicht viel besser sieht es aus, was die Begleitsymptome der Demenz betrifft, zum Beispiel Depression, Apathie, Ängste. «Vorläufige Daten» seien zwar ermutigend, allerdings würden kontrollierte Studien mit Vergleichsgruppen fehlen, um die Wirksamkeit der interventionellen Verfahren zu belegen, stellten Mediziner 2019 in der Fachzeitschrift «Swiss Medical Weekly» fest.
Fehler gefunden?Jetzt melden.