Historisches Urteil in den USA «Waffen verherrlicht» – Eltern von 15-jährigem Todesschützen müssen lange ins Gefängnis
Sie schenkten ihrem Teenager-Sohn die Waffe, mit der er kurz darauf ein Massaker beging. Nun müssen die Eltern wegen fahrlässiger Tötung 10 bis 15 Jahre ins Gefängnis.
Ungefähr einen Monat vor Weihnachten 2021 machte James Crumbley seinem damals 15 Jahre alten Sohn Ethan ein vorgezogenes Geschenk. Er kaufte ihm eine Sig Sauer, Kaliber 9 Millimeter. Es war der Black Friday, der Freitag nach Thanksgiving, an dem es in Amerika viele Sonderangebote gibt. Seine Frau Jennifer erwarb ihm dazu Munition und fuhr mit dem Jungen anderntags zu einer Schiessanlage, einer Shooting-Range. «My beauty», soll Ethan Crumbley die Waffe genannt haben. Seine Schönheit.
Am Morgen vier Tage später wurden seine Eltern in die Oxford Highschool im Norden von Detroit gerufen. Ethan Crumbley hatte eine Pistole, eine Kugel und einen blutenden Mann auf ein Blatt Papier für den Mathematikunterricht gemalt. «Die Gedanken wollen nicht aufhören», notierte er dazu. «Helft mir. Überall Blut. Mein Leben ist sinnlos.»
Nach weniger als einer Viertelstunde verliess das Ehepaar das Schulbüro wieder, offenkundig unbeeindruckt. Auch schickte niemand den Schüler nach Hause. Er hatte seine verstörende Zeichnung damit erklärt, dass er traurig sei, wie das Magazin «Politico» berichtet. Seine Grossmutter sei verstorben und sein einziger Freund weggezogen. Es gehe ihm aber nur um sein Interesse für Videospiele, soll er erklärt haben.
Ungefähr zwei Stunden danach waren vier junge Menschen tot.
Die Opfer waren zwischen 14 und 17 Jahre jung
Ethan Crumbley zog an jenem Vormittag des 30. November 2021 die Sig Sauer aus seinem Rucksack und erschoss in der Oxford Highschool Justin Shilling (17), Madisyn Baldwin (17), Tate Myre (16), und Hana St. Juliana (14). Sieben andere Mitschüler wurden verletzt.
Ein Gericht im Landkreis Oakland County verurteilte den inzwischen 17-jährigen Teenager im Dezember vergangenen Jahres zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Jetzt wurden auch seine Eltern mit langem Freiheitsentzug bestraft, und das ist selbst in der an Shootings fürchterlich reichen US-Geschichte neu.
James (47) und Jennifer Crumbley (46) müssen jeweils insgesamt 10 bis 15 Jahre im Gefängnis verbringen, seit ihrer Festnahme sind bereits mehr als zwei Jahre vergangen. Die Strafkammern folgten den Anträgen der Staatsanwaltschaft und machen Vater und Mutter für Totschlag verantwortlich. Den Auslöser hatte ihr Sohn gedrückt, er ist der Mörder. Aber die Richter und Geschworenen kamen zu dem Schluss, dass die Erziehungsberechtigten an dem Massenmord ihre Mitschuld tragen.
Verhandelt worden war in getrennten Verfahren, das Strafmass wurde am Dienstag für beide verkündet. Es ist ein historisches Urteil, mehr noch als das gegen den jugendlichen Schützen. Der minderjährige Ethan Crumbley wurde trotz seines Alters wie ein Erwachsener behandelt. Er sei besessen von Gewalt, sagte der Richter bei seiner Verurteilung, und beschrieb, wie er das jüngste Opfer mit mehreren Schüssen geradezu gefoltert und hingerichtet habe. James und Jennifer Crumbley gelten als jene, die es so weit kommen liessen.
Mutter soll teilnahmslos gewesen sein
Es gehe hier nicht um schlechte Erziehung, sagte die Richterin Cheryll Matthews. «Diese Verurteilungen bestätigen wiederholte Handlungen oder das Fehlen von Handlungen, die einen entgegenkommenden fahrenden Zug hätten aufhalten können – das wiederholte Ignorieren von Dingen, die einer vernünftigen Person die Haare im Nacken aufstellen würden.»
Mr. Crumbley habe ungehinderten Zugang zu der Waffe und Munition ermöglicht, die Pistole lag offenbar im Schlafzimmer. Mrs. Crumbley habe «den Gebrauch und den Besitz dieser Waffen verherrlicht. Ihre Haltung gegenüber Ihrem Sohn und seinem Verhalten war leidenschaftslos und teilnahmslos.»
Die Tragödie wäre vermeidbar gewesen, sagte Jill Soave, deren Sohn Justin zu den Opfern gehört. «Wenn sie nur etwas getan hätten, Euer Ehren, irgendetwas, um den Verlauf der Ereignisse am 30. November zu ändern, dann wären unsere vier Engel heute hier.» Die Crumbleys hätten bei der Polizei angerufen, weil sie wussten, dass ihr Sohn die Waffe genommen habe, sagte eine andere Mutter. Sie selbst habe in Spitälern angerufen und ihre Tochter gesucht.
Ihr jüngerer Bruder habe jetzt eine Grabrede schreiben müssen, noch bevor er gelernt habe, einen Aufsatz zu schreiben, sagte die ältere Schwester der ermordeten Hana. «Sie haben das Blut unserer Kinder an ihren Händen», sagte Craig Shilling, auf seinem Kapuzenpulli ein Foto seines toten Sohnes Justin.
Es ist das vorläufige Ende von Prozessen, die Amerikas Rechtsprechung in solchen Fällen prägen könnten. Amokläufe auch an Schulen ereignen sich in diesem waffenstrotzenden Land in Serie, seit jenem von Columbine 1999 waren es fast 400. Immer wieder versagen dabei Schutzmechanismen aller Art. Gerade wurde in Virginia ein Schulleiter angeklagt, an seiner Grundschule hatte ein sechsjähriger Erstklässler seine Lehrerin angeschossen.
Kann die Schulaufsicht zur Rechenschaft gezogen werden?
Immer mehr stellt sich die Frage, wer ausser dem Täter oder der Täterin noch zur Rechenschaft gezogen werden darf oder soll. Auch die Schulaufsicht? Und nun also wie in Michigan die Eltern eines Halbwüchsigen, der eine Waffe geschenkt bekam und damit mehrere Leben auslöschte?
Juristen sind unterschiedlicher Ansicht, die Wirkung der Causa dürfte jedenfalls über diesen Bundesstaat hinausgehen. Dies sei ein Exempel, sagte der frühere Staatsanwalt Matthew Schneider der «New York Times». Und eine Warnung für alle, «die Schusswaffen in ihrem Haus haben, sie unter Verschluss zu halten.»
Die Crumbleys sassen in Häftlingsuniform auf der Anklagebank. Sie hatten um mildere Strafen gebeten und sich bei den Angehörigen der Toten dann doch noch entschuldigt. «Meine Handlungen waren die eines jeden anderen Elternteils», hatte James Crumbley vorher geschrieben. Er habe keine Ahnung von dem gehabt, was sein Sohn tun würde, «oder dass es irgendwelche Warnzeichen gab.» Er fand es offenbar völlig normal, einem 15-Jährigen eine Waffe gekauft zu haben, und soll aus dem Gefängnis heraus dann obendrein die Anklägerin bedroht haben.
Jennifer Crumbley hatte während der Verhandlung ausser ihrem Sohn die Schule und ihren Mann verantwortlich gemacht. Die Richterin zitierte ihre Antwort an das Schulpersonal nach dem zwölf Minuten langen Treffen wegen Ethan Crumbleys blutiger Skizze, wenige Stunden vor den Schüssen: «Sind wir hier fertig?»
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