Wer ist schuld an der deutschen Katastrophe?Expertin spricht von «monumentalem Systemversagen»
Trotz dramatischer Warnungen sind in den Sturzfluten mehr als 150 Menschen gestorben. Hätten bessere Notfall- und Evakuierungspläne das verhindern können?
Hannah Cloke ist Professorin für Hydrologie an der englischen Universität Reading und eine renommierte Hochwasserexpertin, die am Aufbau des Europäischen Flutwarnsystems (Efas) mitgearbeitet hat. Dass letzte Woche in Westdeutschland mindestens 160 Menschen in Sturzfluten gestorben sind, macht die Forscherin fassungslos.
Das europäische System habe schon vier Tage vor den Unwettern vor extremen Überschwemmungen gewarnt, sagt Cloke, und einen Tag zuvor mit hohem Detaillierungsgrad auch auf die Gefahren hingewiesen, die von kleinen Flüssen etwa in der Eifel ausgegangen seien. Diese Warnungen seien aber offensichtlich nicht angekommen oder hätten nicht zu den richtigen Vorsichtsmassnahmen geführt.
«Irgendwo ist diese Warnkette gebrochen», sagte Cloke am Sonntag dem ZDF. «Es ist unglaublich frustrierend.» In der englischen «Sunday Times» hatte sie sogar davon gesprochen, dass ein «monumentales Systemversagen» zu einer der tödlichsten Naturkatastrophen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geführt habe.
Teile der deutschen Politik haben die Kritik mittlerweile aufgenommen. Oppositionspolitiker gehen vor allem Innenminister Horst Seehofer (CSU) an, dessen Amt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe auf Bundesebene zuständig ist. Seehofer besuchte am Montag die Flutgebiete in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.
Michael Theurer, Vizechef der FDP-Bundestagsfraktion, kritisierte am Montagmorgen nicht nur die Politik, sondern auch ARD und ZDF frontal: «Die rechtzeitigen Warnungen der Meteorologen sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden.» Er sehe darin ein «erhebliches Systemversagen», für das Seehofer die politische Verantwortung trage.
Susanne Hennig-Wellsow, Chefin der Linkspartei, forderte den Innenminister deswegen bereits zum Rücktritt auf. Kritik kam auch vom sozialdemokratischen Politiker Karl Lauterbach, der monierte, dass Deutschland auf solch extreme Wetterereignisse ähnlich schlecht vorbereitet sei wie 2020 auf eine Pandemie. Der Katastrophenschutz müsse dringend verbessert werden.
Warnungen gab es genug
Sicher ist, dass vor den Sturzfluten der letzten Woche nicht nur das Europäische Flutwarnsystem, sondern auch der Deutsche Wetterdienst und viele andere Meteorologen ausdauernd und eindringlich gewarnt haben.
Armin Schuster, Leiter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz, sagte, sein Amt habe über die Medien und spezialisierte Apps mindestens 150 Warnungen ausgesendet. Allein die amtseigene Warn-App Nina wird in Deutschland von 9 Millionen Menschen genutzt. Das Problem seien nicht die Warnungen gewesen, «sondern die Frage, wie sensibel reagieren Behörden, aber auch die Bevölkerung». Schuster wies auch darauf hin, dass man bei den besten Vorhersagen selbst eine halbe Stunde vorher oft nicht sagen könne, welchen Ort es effektiv mit welcher Regenmenge treffe.
Im Tal der Ahr in der Eifel, wo mindestens 117 der 163 Flutopfer ums Leben kamen, zeigte sich, dass Warnungen wenig nützen, wenn sie nicht spezifisch oder dramatisch genug sind oder zu spät erfolgen. Viele Menschen und Gemeinden im Tal hatten sich «im schlimmsten Fall» auf ein Hochwasser wie 2016 eingestellt, als das Tal bereits schwer überflutet worden war. Diesmal lagen die Pegelstände aber mehr als doppelt so hoch wie damals und übertrafen laut den lokalen Behörden alles Vorstellbare.
Die ersten Sturzfluten zerstörten das technische Vorwarnsystem an der Ahr vielerorts fast auf einen Schlag, weil Strom und Mobilfunknetze ausfielen. Aufforderungen zu Evakuierungen von weiten Gebieten am Fluss erreichten in der Nacht danach nur noch wenige Menschen.
Katastrophenschutz genügt nicht mehr
Kritiker und Expertinnen monieren freilich schon länger, dass der Katastrophenschutz in Deutschland den Herausforderungen nicht mehr genüge, die der fortschreitende Klimawandel mit sich bringe. Der SPD-Experte Sebastian Hartmann sagte der NZZ, dass in Deutschland – im Unterschied etwa zur Schweiz – die Bevölkerung von den Behörden zu wenig einbezogen werde. Viele Menschen würden schlicht nicht wissen, was sie im Katastrophenfall zu tun hätten.
Dass es an Eigenverantwortung fehle, darauf weist auch die englische Forscherin Cloke hin. Hartmut Ziebs, der ehemalige Präsident des Deutschen Feuerwehrverbands, kritisiert, dass die deutsche Politik die Menschen damit offenbar nicht zu sehr habe «belasten» wollen. Der Bund habe in den letzten Jahren viele Übungen durchgespielt – Lehren aus den erkannten Schwächen habe man aber kaum gezogen.
Baerbock: Der Bund muss aktiver werden
Ein Problem ist auch das föderale Zusammenwirken. Für den Katastrophenschutz zuständig sind Bundesländer und Gemeinden. Die können oder wollen sich besseren Hochwasserschutz aber oft nicht leisten. Politiker aller Parteien fordern nun, dass der Bund künftig mehr Verantwortung übernehme. Seehofer widersprach: An der über Jahrzehnte gewachsenen föderalistischen Struktur wolle er nicht rütteln: «Zentralismus verbessert hier gar nichts.»
Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen, sagte dem «Spiegel» am Montag, dass der Katastrophenschutz nur funktioniere, wenn alle Ebenen und Akteure ineinandergriffen und ein Bundesamt die Anstrengungen bündle und koordiniere. Sie forderte mehr Investitionen für Anpassungen an den Klimawandel und ein «striktes Bauverbot in Hochwasserrisikogebieten».
In Letzterem sieht langfristig auch der Hochwasserforscher Jürgen Jensen von der Universität Siegen am meisten Potenzial. Gerade auch im Vergleich zur Schweiz, wo das Baurecht in Risikogebieten restriktiver gehandhabt werde als in Deutschland.
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