Nukleare Gefahr in der UkraineEuropas grösstes Atomkraftwerk zweimal beschossen
Das Atomkraftwerk liegt in der Region Saporischschja, nahe der Stadt Enerhodar, die von den Russen kontrolliert wird.
Ungeachtet drastischer Warnungen vor einer Atomkatastrophe ist das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine in der Nacht zum Sonntag ein weiteres Mal beschossen worden. Während die Regierung in Kiew Russland für die Angriffe verantwortlich macht, beschuldigt Moskau ukrainische Truppen. Die sich widersprechenden Angaben liessen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Rafael Mariano Grossi zeigte sich «äusserst besorgt» über den Beschuss des grössten Atomkraftwerks in Europa. Er berge das «sehr reale Risiko einer nuklearen Katastrophe», die die öffentliche Gesundheit und die Umwelt in der Ukraine und darüber hinaus gefährden könnte. Jeder Beschuss, der auf die Anlage gerichtet werde oder von ihr ausgehe, komme «einem Spiel mit dem Feuer» gleich. Militäroperationen, welche die Sicherheit des Kraftwerks bedrohten, müssten «um jeden Preis unterlassen werden».
Bei dem Vorfall am Samstag wurde nach Angaben der ukrainischen Betreiberfirma Energoatom durch einen Raketenangriff ein Trockenlager auf dem Kraftwerksgelände in Mitleidenschaft gezogen, in dem 174 Behälter mit abgebrannten Brennelementen unter freiem Himmel gelagert werden. Zudem seien auf dem Kraftwerksgelände drei Sensoren zur Strahlenmessung beschädigt worden, was die Fähigkeit beeinträchtige, die Freisetzung von radioaktiven Stoffen festzustellen. Ein Arbeiter sei durch Splitter verletzt und ins Krankenhaus gebracht worden. Am Sonntag teilte die IAEA mit, die Situation sei nach einer vorläufigen Einschätzung stabil und nicht bedrohlich.
Die russische Nachrichtenagentur Interfax meldete unter Berufung auf die russische Besatzungsverwaltung von Enerhodar, der an das Kraftwerk angrenzenden Stadt, ukrainische Truppen hätten eine 220-Millimeter-Rakete auf das Kraftwerk geschossen. Die sechs Meiler stehen unter der militärischen Kontrolle russischer Truppen, seitdem diese im März die Anlage eingenommen haben, werden aber von ukrainischen Bedienmannschaften gesteuert. Enerhodar gab weiter an, die russischen Soldaten hätten sich kurz vor dem Beschuss in Sicherheit gebracht. Am Freitag bereits war eine Stromleitung, die zu dem Kraftwerk führt, durch Beschuss beschädigt worden. Die Bedienmannschaft fuhr daraufhin einen Reaktorblock herunter, der selbst aber nicht getroffen wurde.
Am Donnerstag hatten russische Truppen die Stadt Nikopol mit Dutzenden Raketen beschossen. Sie liegt nur etwa zehn Kilometer von dem Kraftwerk entfernt auf dem anderen Ufer des Flusses Dnjepr, der in der heftig umkämpften Region die russischen und die ukrainischen Truppen trennt. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij forderte neue Sanktionen gegen Russland. Russlands «nuklearer Terror» erfordere «Strafen gegen die russische Nuklearindustrie und Kernbrennstoffe», schrieb Selenskij auf Twitter. IAEA-Chef Grossi verlangte erneut, dass die Konfliktparteien ihm und Inspektoren seiner Behörde Zugang zu dem Kraftwerk gewähren, um die nukleare Sicherheit vor Ort zu stabilisieren und unabhängige Informationen über den Zustand des Kraftwerks zu gewinnen.
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